Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
die Nase. Dieses Gefühl, was man hatte, bevor einem die Tränen in die Augen schossen.
Nein, soweit durfte es nicht kommen. Kein Bruder durfte seine kleine Schwester beim Sex mit irgendwelchen Perversen begleiten müssen. Um sie zu schützen. So durfte unsere Welt nicht funktionieren.
Sie wusste, dass es anders war.
Die Streetworkerin schluckte mehrmals, bevor sie antwortete.
*
Die Altstadt von Cheb war pittoresk. Von oben sah man die schönen, mit roten Ziegeln gedeckten Dächer. Unter denen sich niemand wirklich Gedanken um die Seelen der Roma-Kinder machte, die ein paar Straßenzüge weiter in kleinen Gruppen auf ihre Freier warteten. Es gab keine Straße nach Cheb, keine Gasse, keinen Straßenzug in und am Rande der City ohne kleinere Gruppen minderjähriger Mädchen. Dazwischen auch ein paar Jungen, die aber in der Minderheit waren.
Diese Mädchen, so ab 12 Jahren, zum Teil hochschwanger, bevölkerten die Fußwege und Straßenränder.
Es war noch hell, als Carola Pütz und Reto Winterhalter sich in der Nähe des alten Marktplatzes einen Parkplatz suchten. Das Büro der Organisation, mit deren Mitarbeiterin sie sich heute treffen würden, lag ganz in der Nähe des historischen Marktplatzes. Dort wo sich die Touristen im Sommer zu Tausenden um das Stöckl scharten, einem Fachwerkensemble aus dem dreizehnten Jahrhundert. Pütz fielen sofort die vielen jungen Frauen auf. Fragend schaute sie Winterhalter an.
„Vermutlich ja, wenn ich mir die langsam fahrenden Autos mit deutschem Kennzeichen anschaue“, antwortete er und verschloss den Saab.
Es hatte gottseidank kurz hinter der Grenze aufgehört, zu regnen.
„Das können aber doch unmöglich alles Prostituierte sein. Die gehören doch noch in die Schule“, sagte Pütz. Ihr war dieser Gedanke schlimmer als widerlich. Sie blickte in einen BMW mit deutschem Kennzeichen und versuchte zu ergründen, was den Fahrer wohl dazu trieb, sich hier nach Kindern umzuschauen. Für Sex.
Mitten auf der Straße blieb sie stehen.
Der Fahrer blickte sie nur ganz kurz an. Dann gab er Gas und fuhr weiter.
War das so etwas wie eine schamvolle Reaktion gewesen?
Pütz drehte sich um und sah ihm hinterher. An der nächsten Ecke bog er rechts ab.
„Was geht hier denn ab? Ist das überall so in dieser Stadt?“
Winterhalter zog sie am Arm von der Straße weg.
„Nein, nicht überall. Hier ist das Zentrum, hier sind die meisten Touristen.“
„Touristen? Das ist ja wie in Thailand.“
„Das hier ist schlimmer als Thailand“, antwortete Winterhalter und fügte hinzu: „Weil es direkt vor der Haustüre ist.“
Pütz sah einer jungen Frau hinterher. Sie war schwanger.
War sie auch eine Prostituierte?
„Nein“, sagte Winterhalter, der ihr die Frage vom Gesicht ablas, „Die Tschechen vermehren sich auch auf die konventionelle Art. Kommen Sie jetzt bitte, wir sind schon etwas spät dran.“
Pütz ließ sich bereitwillig mitziehen. Gemeinsam mit Winterhalter erlebte sie gerade live, was sie gedruckt, schwarz auf weiß, nie geglaubt hätte.
Niemals.
Auf eine bestimmte, aber von ihr nicht zu deutende Weise, empfand sie plötzlich Hochachtung für die Arbeit von Reto Winterhalter. Es schien ihn nicht so sehr anzugreifen. Oder er vermochte es sehr gut, zu verbergen. Das glaubte Pütz eher.
„Ich glaube, ich möchte gar nicht mehr wissen, als das, was ich jetzt schon gesehen habe.“
Winterhalter schwieg und zog sie wortlos hinter sich her. Es würde noch mehr auf sie einstürzen, das wusste er bereits. Auch auf ihn war es eingestürzt. Beim letzten Besuch.
Als sie durch eine kleine Gasse schritten, die auf den Marktplatz führte, fuhr hinter ihnen wieder das Auto vorbei, dessen Fahrer eben noch schamvoll Gas gegeben hatte. Langsam fuhr er in einer Schlange weiterer PKW weiter. Alles deutsche Autos der oberen Mittelklasse mit Herren jenseits der fünfzig.
Als sie auf die Klingel drückten, worauf mit Schreibmaschine der Name der Organisation geschrieben stand, plärrte kurz drauf der Türöffner und die Haustüre sprang mit einem schnarrenden Geräusch auf.
„So eine Organisation erwartet man nicht an einer so prominenten Stelle“, sagte Winterhalter, „Ich war beim ersten Besuch auch sehr überrascht.“
„Stimmt, ich hätte eher erwartet, man würde sie weiter draußen finden. Hier gibt es doch sicher auch Publikumsverkehr.“
„Früher waren sie auch weiter draußen, dort wo man ihre Arbeit nicht wahrnehmen konnte. Als Tourist versteht sich.
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