Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
Gesichtssinn nicht damit abfinden zu wollen, den ganzen Tag nur auf leere blaue Flächen zu starren, die lediglich durch die ferne Linie des Horizonts in einen etwas helleren und einen etwas dunkleren Bereich unterteilt waren. Angesichts einer solchen Ödnis erschuf sein Verstand anscheinend eigene Bilder, um die erschreckende Weite des Meeres mit ein paar vertrauten Formen anzufüllen.
Allein, diesmal war es anders. Nicht nur, dass die schemenhaften Umrisse am Horizont auch nach wiederholtem Blinzeln hartnäckig bestehen blieben und mehr wie eine felsige Küstenlinie auszusehen begannen, auch der Schrei der Möwe war unverkennbar gewesen. Bisher waren von den Sinnestäuschungen noch nie gleichzeitig Sehen und Hören betroffen gewesen. Flehentlich sah Barat zum Himmel hinauf, ob dieser ihm nicht vielleicht doch eine sanfte Brise schicken wollte. Aber als nach einigen Augenblicken das strahlende Blau über ihm noch immer nichts von seiner gleichgültigen Erhabenheit verloren hatte, lenkte Barat seinen Blick letztendlich wieder auf den schweißgebadeten Rai. Der alte Soldat seufzte tief, dann entledigte er sich seiner gesamten Kleidung. Vorsichtig ließ er sich hinter dem Boot ins Wasser gleiten und begann zu strampeln.
Beinahe so anstrengend, wie das kleine Fischerboot vor sich herzuschieben, war der Versuch, die Schauergeschichten über die in den Tiefen der See beheimateten Meeresungeheuer aus seinem Kopf zu vertreiben. Dass dort irgendetwas Schreckliches in der gestaltlosen Finsternis unter ihm lauerte und nur auf diese Gelegenheit gewartet hatte, um ihn hinabzuziehen, ließ sich nur schwer ignorieren. Doch Barat war Soldat gewesen, und eine der wichtigsten Fähigkeiten, die man benötigte, um die Nacht vor der Schlacht durchzustehen, war, möglichst vollständig jeden Gedanken an die drohende Gefahr zu verdrängen. Jeder Soldat hatte da seine eigenen Methoden. Ob die Gedanken nun um die Verlobte oder eine rein oberflächliche, dafür aber leidenschaftliche Beziehung für eine Nacht kreisten, ob man sich ein ausschweifendes Gelage oder das eigene Heim ausmalte, alles erfüllte denselben Zweck: nämlich, sich vom allgegenwärtigen Schrecken des Krieges abzulenken, um in der Lage zu sein, das zu tun, was getan werden musste. Barat hatte sich seltsamerweise in solchen Situationen stets vorgestellt, König zu sein. Er hatte dies nie jemandem verraten, aber in seinen Gedanken wurde er zum gütigen Herrscher über ein ganzes Volk, das weder Hunger noch Krieg kannte, das behütet wurde durch gerechte Gesetze und seinen Herrscher dafür liebte. Er wusste selbst nicht, warum dies ein so beständig wiederkehrender Traum von ihm war, wiewohl der Held Ecorim mit Sicherheit seine Vorstellung von einem guten König wesentlich geprägt hatte. In König Jorig Techel sah er hingegen nur einen intriganten, machthungrigen Emporkömmling ohne Verantwortungsgefühl für das Volk. Und während Barat sich im Thronsaal von Citheon mit der Krone des Südens auf seinem Haupt die Bittsteller aus aller Herren Länder empfangen sah, steuerte er das Boot mit dem halb toten Rai darin beständig Richtung Küste.
Unendlich langsam näherte er sich den zunehmend höher aufragenden Klippen, die aussahen, als hätte irgendein jähzorniger Gott an dieser Stelle das Land mit einer gewaltigen Axt abgetrennt. Barat fluchte leise vor sich hin. Dies schien so ziemlich der schlechteste Ort am ganzen Quasul zu sein, um an Land zu gehen, dennoch musste er es Rai zuliebe versuchen. Eine weitere Nacht auf See würde er vermutlich nicht überstehen. Wäre das Meer nicht so ruhig gewesen, hätte er sich den Klippen ohnehin nicht gefahrlos nähern können, denn die Wellen hätten ihre Nussschale an den scharfen Felszähnen am Fuße der Klippen zerschmettert. So konnte er es jedoch wagen, bis auf wenige Bootslängen heranzupaddeln, um nach einer halbwegs geeigneten Stelle zum Anlegen zu suchen.
Einige Hundert Schritt links von ihm ragte ein klobiger Felspfeiler aus dem Wasser, wie eine Art Vorposten der Steilküste. Zwischen den Klippen und dem einsamen Felsenturm schien das Wasser etwas seichter zu sein, sodass Barat beschloss, auch noch diese endlos erscheinende Distanz zu bewältigen. Als er schließlich vollkommen entkräftet am Fuße des Steinriesen ankam, schabte das kleine Boot auch schon über die ersten unter Wasser verborgenen Felsen. Doch was Barat in diesem Moment weit mehr überraschte, war, dass nun ein Spalt in den mächtigen Klippen zu sehen
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