Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
Vogelhaus vor einem Fenster im ersten Stock landete. Als sie sich hungrig über den dort aufgetürmten Körnerberg hermachte, brachte sie eine kleine Glocke am Eingang der Futterstelle heftig zum Bimmeln. Es war ein leiser, aber durchdringender Ton, der nicht lange ungehört blieb.
Als Megas das sanfte Läuten des Glöckchens vernahm, stand er gerade vor der Tür zu seinem Zimmer im ersten Stock der Kriegerschule Ecorim. Er hatte eben erst den Speisesaal in der Absicht verlassen, sich für das Fest entsprechend zu kleiden, und so war er gerade im richtigen Moment gekommen, um die Ankunft seines kleinen Gastes in dem Vogelhaus vor seinem Fenster zu bemerken. Gespannt öffnete er die Zimmertür, die er in seiner Abwesenheit vorsichtshalber stets verschlossen hielt. In der Schule interessierte sich zwar kaum jemand für ihn, weil man aber nie wissen konnte, ob einer seiner neugierigen Mitschüler nicht doch einmal den Einfall haben würde, einigen von Megas’ Geheimnissen nachzuspüren, wollte er die Gefahr so gering wie möglich halten. Bisher schien aber noch nicht einmal das Vogelhaus vor seinem Fenster irgendjemandem aufgefallen zu sein, obwohl er dort mittlerweile schon vier Tauben großgezogen hatte.
Tatsächlich schien es sich bei der Taube, die soeben gelandet war, um eine seiner wertvollen Brieftauben zu handeln. Eilig öffnete er das Fenster und ergriff das Tier vorsichtig mit beiden Händen. Er erkannte sofort an ihrer Zeichnung, dass es sich um seine beste Taube, Kasa, handelte. Sie fühlte sich sehr mager an, was auf einen weiten Flug schließen ließ. Natürlich wusste Megas, woher sie kam. Schließlich hatte er sie persönlich nach der Aufzucht in einem kleinen Käfig dorthin bringen lassen.
»Es ist ein weiter Weg von Tilet bis nach Seewaith«, flüsterte Megas, um das Tier mit seiner Stimme zu beruhigen. »Du hast gute Arbeit geleistet!« Er löste vorsichtig die kleine Metallkapsel, die an ihrem Bein befestigt war, und setzte die Taube dann wieder in ihr Haus, wo sie gierig zu picken begann. Gespannt öffnete er das daumennagelgroße Behältnis und holte ein winziges Pergamentröllchen daraus hervor. Mit dünnen, krakeligen Linien waren darauf seltsame Zeichen gemalt. Es handelte sich um eine Geheimschrift, die nur wenige Eingeweihte lesen konnten. Megas entriegelte mit einem kleinen Schlüssel, den er um den Hals trug, ein massives hölzernes Kästchen, das auf seinem Schreibtisch stand, und holte eine Lupe daraus hervor, einer seiner teuersten Schätze. Mit dem Vergrößerungsglas bewaffnet, setzte er sich an den Tisch, um den Text zu entschlüsseln. Es handelte sich nur um wenige Sätze:
In der Nacht der Vereinigung
soll der tote Held brennen.
Dein krummer Getreuer wartet im Hafen.
Auf seinem Schiff triff st du die Schatten,
die du für dein Werk benötigst.
Erfülle deine Aufgabe wie vereinbart,
dann darfst du heimkehren.
A.
Megas lehnte sich zurück. Ein erleichtertes Lächeln stand auf seinen Lippen.
»Endlich«, seufzte er. »Endlich ist es so weit! Morgen bin ich ein freier Mann.« Er steckte den kleinen Pergamentfetzen in den Mund und schluckte ihn mit einiger Mühe hinunter. Dann legte er rasch sein feines Abendgewand an und verließ das Zimmer, um mit den anderen zum Marktplatz zu gehen. Doch er würde sein letztes Fest in Seewaith nicht genießen können. In dieser Nacht musste er zur Vollendung bringen, was er jahrelang vorbereitet hatte.
Als Megas in der Eingangshalle ankam, waren dort schon alle Schüler versammelt. Es herrschte besonders unter den Kleinen ein reges Geschnatter, und es schien, als könnte es keiner länger als ein paar Augenblicke an einem Fleck aushalten. Es wurde gestoßen und gedrängt, gelacht und gezankt, sodass es schien, als habe sich die erhabene Schule in einen Spielplatz verwandelt. Es tat Megas fast leid um das alte Gemäuer, denn »der tote Held«, wie sein Auftraggeber die Kriegerschule in Anspielung auf ihren verstorbenen Namensgeber Ecorim bezeichnet hatte, war geprägt von einer langen Tradition aus harter Arbeit, eisernem Willen und dem Streben nach Perfektion. Megas schätzte diese Tugenden hoch. Gleichwohl waren ihm seine eigenen Interessen schon von jeher wichtiger gewesen als irgendwelche sentimentalen Gefühle, die er als Schwäche abzutun pflegte. Außerdem waren die meisten hier ohnehin nicht gerade freundlich zu ihm, mit wenigen Ausnahmen. Seine Augen wanderten zu den älteren Schülern, die fast alle Daia umringten, um
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