Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
hasst es, jetzt gehen zu müssen, und fühlt sich doch gleichzeitig auch irgendwie erleichtert.
„Nein. Ich will nur eine Weile meine Augen schließen. Mir geht es gut. Fahr nur“, antwortet er.
Einen Moment lang steht sie in dem verdunkelten Raum neben Gus’ Bett und sieht zu, wie seine Brust sich hebt und senkt, lauscht dem monotonen Geräusch des Sauerstoffgeräts.
Was tue ich nur ohne ihn? Wohin soll ich gehen?
CLAIRE
Claire und Jonathan erzählen Joshua nicht alles über seinen Habdich-Tag. Sie erzählen ihm nicht, wie Claire mit angesehen hat, dass Jonathan seine Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben hat. Wie sehr er gezögert hat, als Dana sie wegen des verlassenen Babys angerufen hat. Wie Claire sich selbst ermahnen musste, ruhig zu bleiben und ihm Zeit zu lassen. Wie sich, als er endlich den Kopf hob, kleine rote Punkte auf seiner Stirn zeigten, wo die Finger sich in die Haut gedrückt hatten. Wie Claire zu ihm gehen und jeden einzelnen roten Fleck vorsichtig, zärtlich küssen wollte. „Nur bis sie eine andere Pflegefamilie für ihn finden, Claire“, hatte Jonathan wenig überzeugend gesagt. „Verstehst du das? Nichts Langfristiges. Auf gar keinen Fall. Das schaff ich nicht.“ Er schüttelte den Kopf, immer noch fassungslos. „Ich kann so etwas wie mit Ella nicht noch einmal durchleben. Ich kann mich nicht noch einmal auf ein Kind einlassen, nur damit es mir am Ende weggenommen wird. Das ist ja der ganze Sinn von Pflegefamilien – dass die Kinder irgendwann wieder zu ihren Eltern zurückkehren können.“
„Ich auch nicht“, hatte Claire geflüstert. „Ich kann auch nicht noch mal dasselbe wie bei Ella durchmachen.“ Aber irgendwie wusste Claire, dass diese Mutter nicht zurückkommen, ihnen den kleinen Jungen nicht wieder wegnehmen würde. So grausam konnte Gott nicht sein, nicht nach all dem, was passiert war.
Ein Jahr zuvor war ein totes Baby auf einem gefrorenen Maisacker auf der anderen Seite des Staats gefunden worden. Danach hatte der Staat Iowa schnell ein Gesetz erlassen, das unter dem Namen „Sicherer Hafen“ bekannt wurde. Es erlaubte Müttern, ihre Neugeborenen innerhalb von zwei Wochen in Krankenhäusern, Polizeirevieren oder Feuerwehrwachen abzugeben, ohne Angst vor einer Strafverfolgung haben zu müssen. Die Ärzte nahmen an, dass dieses Baby ungefähr einen Monat alt war, und einen kurzen Moment lang sorgte sich Claire, dass die Polizei die Mutter finden würde, die den Kleinen ausgesetzt hatte.Doch schnell hatte sie ihre Ängste beiseitegeschoben. Dieser kleine Junge, den sie mit nach Hause nehmen würden, war das erste Baby, das in einem „Sicheren Hafen“ abgegeben worden war. Er würde ihrer sein.
Als Dana den kleinen Joshua in Claires Arme legte, war es, als wäre sie mit einem Mal geheilt. Als wenn die Fehlgeburten, die Operationen nie passiert wären. Der Schmerz, der Verlust, wurde zu einer fernen Erinnerung. Das war es, worauf sie all die Jahre gewartet hatten. Dieser wunderschöne, perfekte kleine Junge.
Auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause hatten sie kurz angehalten, um ein paar Sachen zu besorgen. Windeln, Flaschen, Milchpulver. Im letzten Moment schnappte Claire sich noch ein Buch mit Babynamen. Endlich – endlich durfte sie einem Baby einen Namen geben. Das Buch führte alle Namen in alphabetischer Reihenfolge auf, daneben standen die Herkunft des Namens und seine Bedeutung. Der Name dieses Kindes, entschied Claire, sollte eine besondere Bedeutung haben. Da sie ihm schon nicht das Leben geschenkt hatte, würde sie ihm wenigstens einen schönen Namen geben, und der würde etwas bedeuten.
Claire gefiel der Name Cade, aber er bedeutete „rund“ oder „pummelig“. Jonathan mochte den Namen Saul, „der von Gott Erbetene“. Das war eine Möglichkeit, hatten sie doch seit Jahren für ein Baby gebetet. Der Name Holmes bedeutete „sicherer Hafen“, doch Jonathan fand ihn ein wenig spießig und fürchtete, dass die Kinder in der Schule ihren Sohn dann immer Sherlock nennen würden. Claire blätterte noch ein wenig weiter, und ihr Blick fiel auf den Namen Joshua. „Von Gott gerettet.“ „Joshua“, sagte sie laut, wog das Wort auf ihrer Zunge. Claire lächelte Jonathan an und drehte sich auf ihrem Sitz nach dem Baby um, das ihr Sohn werden sollte. „Joshua“, wiederholte sie ein wenig lauter, und in dem Augenblick seufzte ihr Sohn leise im Schlaf. Sicher. Gerettet.
CHARM
Seit sie mit ihrem Praktikum als
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