Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Krankenschwester im St. Isadore’s angefangen hat, vergeht kein Tag, an dem Charm nicht an das Baby denkt. Auch wenn sie weiß, dass es gut versorgt und geliebt wird, kann sie nicht an den gelben Sicherer-Hafen-Schildern im Krankenhaus vorbeigehen, ohne sich an die Trauer und Erleichterung zu erinnern, die sie empfunden hat, nachdem sie ihn abgegeben hatte – obwohl es nicht nur an ihr gewesen war, über diesen Schritt zu entscheiden. Wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie hauptsächlich Erleichterung verspürt. Hätte sie ihn nicht zur Feuerwache gebracht, wäre es mehr als fraglich gewesen, ob sie den Highschool-Abschluss geschafft hätte – ganz zu schweigen vom Besuch des Colleges. Und Charm ist überzeugt, dass ihre Mutter irgendwie einen Weg gefunden hätte, das Leben des Babys zu ruinieren.
Charm eilt eine Straße entlang, die von den altehrwürdigen Backsteingebäuden gesäumt wird, aus denen der St. Anne’s Campus besteht. Das kleine, private College befindet sich mitten in Linden Falls und ist umgeben von historischen Häusern und Kopfsteinpflasterstraßen, die langsam zerfallen. Außer Atem schließt sie sich einer Gruppe Studentinnen an, die auf dem Weg zum Kurs „Menschenführung und zeitgemäße Fragen in der Krankenpflege“ sind. Sophie, ein großes, schlaksiges Mädchen, das in der pädiatrischen Onkologie arbeiten will, beharrt gerade darauf, dass es eine übersinnliche Verbindung mit seiner Mutter hat.
„Ehrlich“, sagt Sophie, als sie den Klassenraum betreten. „Ich muss nur an meine Mutter denken, dann klingelt eine Minute später das Telefon und sie ist dran.“
„Was für ein Quatsch.“ Charm gibt ein abschätziges Geräusch von sich. „Ich glaube dir nicht.“ Um Unterstützung heischend schaut sie ihre Klassenkameraden an, aber die lächeln alle nur wissend, nicken und sagen Sachen wie: „Das stimmt, mir geht es mit meiner Schwester genauso.“
„Beweis es“, fordert Charm sie heraus. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück.
„Okay.“ Sophie zuckt mit den Schultern und wühlt in ihrer Tasche. Sie holt ihr Handy heraus und legt es vor sich auf den Tisch.
„Und jetzt?“, fragt Charm.
„Nichts. Wir warten einfach. Sie wird innerhalb der nächsten Minute oder so anrufen“, erklärt Sophie.
Charm schüttelt ungläubig den Kopf, aber nach nicht einmal einer Minute fängt Sophies Telefon an, zu vibrieren und über den Tisch zu tanzen. Sophie nimmt es in die Hand und zeigt allen das Display. Mom .
„Hey, Mom“, begrüßt Sophie ihre Mutter. „Ich habe gerade an dich gedacht.“ Sie schenkt Charm ein triumphierendes Lächeln.
Charm ist beeindruckt, aber auch ein wenig betrübt. Ihr fällt niemand ein, zu dem sie eine so starke Verbindung hat. Ganz bestimmt nicht zu ihrer Mutter. Reanne muss immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Charm hat ihr nie gereicht, ihr Bruder hat nie gereicht. Gus hat nie gereicht. Reanne Tullia war ständig auf der Suche nach etwas Besserem, Aufregenderem. Charm hat keine Ahnung, wo ihr Bruder ist, und ihr Vater könnte genauso gut tot sein, so wenig weiß sie über ihn. Charm hatte letztes Jahr einen Freund, der sie alle naselang angerufen hat, aber das hatte mehr mit seiner wahnsinnigen Unsicherheit zu tun als mit einer übernatürlichen Verbindung.
Gus, denkt sie. Vielleicht habe ich so eine Verbindung mit Gus. Er ist derjenige, der mir beigebracht hat, Fahrrad zu fahren, Brüche zu multiplizieren, derjenige, der im Zuschauerraum gesessen und Tränen weggeblinzelt hat, als ich quer über die Bühne gegangen bin, um mein Highschool-Abschlusszeugnis in Empfang zu nehmen.
Alles, was Charm darüber weiß, was es bedeutet, ein guter Elternteil zu sein, ein guter Mensch, hat sie von Gus gelernt. Eins weiß sie ganz sicher: Wenn sie verheiratet ist und Kinderhat, wird sie jeden Tag für sie da sein. Sie wird sie nicht im Stich lassen, wenn es mal schwer, traurig oder einfach nur langweilig wird.
Das ist etwas, das ihre Mutter und ihr Bruder nie gelernt haben.
BRYNN
Es ist meine erste Stunde im neuen Semester, und auch wenn ich alle Dozenten und die meisten meiner Mitstudenten kenne, bin ich nervös. Ein vertrautes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus, wie dichter Staub, der sich erhebt und über mein Brustbein legt. Ich versuche, tiefe Atemzüge zu nehmen, wie Dr. Morris es mir geraten hat, und es hilft tatsächlich.
Ich freue mich auf meine Vorlesungen in diesem Semester. Ich belege die Kurse
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