Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Dingenoch so sind, wie sie waren, bevor alles schiefging. Ich stelle mir vor, dass ich wieder in der Highschool bin, die Vierhundertmeterbahn laufe und versuche, meine Bestzeit zu unterbieten; dass ich in meinem Zimmer sitze und Mathehausaufgaben mache, meiner Mutter bei der Vorbereitung des Abendessens helfe, mich mit meiner Schwester unterhalte.
Ich hatte einen Plan. Ich wollte die Aufnahmeprüfungen zum College mit Auszeichnung bestehen, für die University of Iowa oder die Penn State Volleyball spielen, meinen Vorabschluss in Jura machen und dann auf die juristische Fakultät gehen. Ich hatte meine Zukunft genau geplant. Jetzt ist sie verloren. Und das alles nur wegen eines Jungen und einer Schwangerschaft.
Ich lag im Krankenhaus am Tropf, als ich Devin das erste Mal getroffen habe. Sie hat mir erzählt, dass ich wegen Mordes und Kindsgefährdung angeklagt werde. „Hast du gedacht, das Baby sei tot, bevor du es in den Fluss geworfen hast?“, hatte sie mich bei diesem ersten Treffen gefragt. Ich habe nur mit den Schultern gezuckt und geschwiegen.
„Dachtest du, sie sei tot?“, fragte sie erneut und ging vor meinem Bett auf und ab. Sie war gnadenlos. Ich wollte mich einfach nur zusammenrollen und sterben, und sie versuchte, noch mal genau durchzugehen, was passiert war.
„Klar“, sagte ich schließlich. „Sicher, ich habe gedacht, dass es tot ist.“
Sie wirbelte herum. „Nenn sie niemals es . Verstehst du mich?“, sagte sie ernst. „Du nennst sie das Baby oder sie, aber niemals es , verstanden?“
Ich nickte. „Ich habe wirklich gedacht, das Baby sei bereits tot“, wiederholte ich und wollte es glauben, aber ich wusste, nichts von dem, was ich sagte, entsprach der Wahrheit. Die Gerichtsmedizin hatte bereits bewiesen, dass ich falschlag.
Schließlich brachte Devin mich dazu, mich des unbeabsichtigten Totschlags schuldig zu bekennen, ein Verbrechen der Kategorie „D“, das mit einer fünfjährigen Haftstrafe geahndet wurde, und der Kindsgefährdung, ein Verbrechen der Kategorie „B“, dasmir mehr als fünfzig Jahre hinter Gittern einbringen könnte, auch wenn Devin mir versicherte, dass ich auf gar keinen Fall so lange sitzen würde. Ich musste nicht zu meiner eigenen Verteidigung in den Zeugenstand treten. So weit ist es nie gekommen. Ich habe niemals jemandem erzählt, was in der Nacht geschehen ist, und niemand scheint sich für die genauen Einzelheiten zu interessieren. Ich glaube, ich erinnere alle an jemanden, den sie kennen könnten. Eine Schwester, eine Tochter, eine Enkelin. Vielleicht sogar sie selbst. Jeder weiß in etwa, was ich getan habe. Das reicht ihnen. Devin hatte recht. Ich wurde zu zehn Jahren in Cravenville verurteilt. So schrecklich das in dem Moment auch klang, es war besser als die fünfzig Jahre, die auch möglich gewesen wären. Ich fragte Devin, warum die Strafe so gering ausfiel.
„Da spielen mehrere Faktoren hinein“, hatte sie erklärt. „Überfüllte Gefängnisse, die Umstände der Tat. Mit zehn Jahren bist du sehr gut davongekommen, Allison.“
Dann, vor einem Monat, hat Devin mich im Gefängnis besucht. Ich lief gerade im Innenhof, der Beton reflektierte die Julihitze. Ich spürte die Wärme durch meine Turnschuhe und meine Socken in mich hineinströmen. Schwer atmend sah ich Devin schnellen Schrittes auf mich zukommen. Sie trug ihren grauen Hosenanzug, der beinahe so etwas wie ihre Uniform war, und hochhackige Schuhe. Ich hatte noch nie Pumps getragen, bin nie zu einem Schulball gegangen, habe nie eine Abschlussfeier besucht. „Gute Neuigkeiten, Allison“, sagte sie anstatt einer Begrüßung. „Die Bewährungskommission wird deinen Fall noch einmal anschauen. Nächste Woche musst du zu einer Befragung erscheinen.“
„Bewährung?“, fragte ich verblüfft. „Es sind doch erst fünf Jahre.“ Ich hatte nicht gewagt, an eine frühzeitige Entlassung auch nur zu denken.
„Dank deiner guten Führung und all der Schritte, die du unternommen hast, um dich zu bessern, hast du dich für eine Anhörung vor dem Bewährungsausschuss qualifiziert. Sind das nicht tolle Neuigkeiten?“ Fragend musterte sie meine besorgte Miene.
„Das sind gute Neuigkeiten“, erwiderte ich, hauptsächlich weil sie es hören wollte. Wie konnte ich ihr erklären, dass ich, nachdem ich mich an das Eingesperrtsein gewöhnt hatte, an das fürchterliche Essen, die Brutalität des Gefängnisalltags, nachdem ich ins Reine gekommen war mit den Gründen für meinen Aufenthalt hier, ich
Weitere Kostenlose Bücher