Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
schon verlieren, hatte sie sich gefragt. Hat Gott seine Meinung geändert? Erst als die Luft erneut seine kleinen Lungen füllte, hatte auch sie wieder atmen können.
Langsam steht Claire auf. An diesem Tag spürt sie jedes einzelne ihrer fünfundvierzig Jahre. Wenn Joshua seinen zehnten Geburtstag feiert, wird sie fünfundfünfzig sein. Wenn er vierzig wird, wird sie bereits achtzig sein. Mutter zu sein ist das Härteste, Furchteinflößendste, Wundervollste, was sie je tun wird. Die vielleicht größte Freude, die ihr Joshuas Anwesenheit in ihrem Leben bereitet, ist – abgesehen davon, dass er sie Mom nennt –, Jonathan und Joshua zusammen zu sehen. Wenn sie sich gemeinsam Architekturzeitschriften anschauen oder Renovierungssendungen im Fernsehen. Claire musste lachen, als Joshua auf die Frage, was er mal werden möchte, sagte, Bob Villa oder sein Dad. Bob Villa, der Moderator seiner liebsten Heimwerkersendung. Wenn sie gemeinsam abschleifen, schmirgeln und lackieren, alte Kaminverkleidungen, Schränke und Treppengeländer aufmöbeln, wenn sie sieht, wie Jonathan seinem Sohn erklärt, wie man einen Nagel einschlägt oder eine Schraube eindreht, schwillt ihr die Brust vor Stolz.
Auch wenn Joshua ihr einziges Kind ist, weiß Claire, dass er nicht so ist wie andere Kinder. Eine ganze Zeit lang hat sie ihn einfach für einen Träumer gehalten. Sein Kopf steckt so voller kreativer, fantasievoller Ideen, dass er sie oft nicht zu hören scheint, wenn sie mit ihm sprechen – eine Tatsache, die sie oft ignorieren kann. Sie können ihn mehrmals bitten, etwas zu tun, und Joshua scheint sie auch zu verstehen, aber er tut es einfach nicht. Manchmal wirkt es so, als würde er ihre Welt komplett verlassen; er kann einfach so ins Nichts starren, vollkommen versunken in etwas, das sie nicht kennt, von dem sie nichts weiß, und er ist dann so lange weg, bis sie ihn vorsichtig wieder zurückholt. Ihn umgibt eine Art Schutzwall, der die harte Realität von ihm fernhält. Ohne das, so glaubt sie, würde er sich sehr ausgeliefert und verletzlich fühlen. Claire weiß nicht, ob das was mit der Tatsache zu tun hat, dass sein Gehirn für einen Moment nicht mit Sauerstoffversorgt worden ist, oder ob er etwas Traumatisches erlebt hat, bevor er zu ihnen gekommen ist. Manchmal hat sie Angst, dass ihre Liebe nicht ausreicht, um Joshuas Vertrauen in die Welt wiederherzustellen.
Claire fährt mit dem Finger über eine Reihe Fotos, die auf dem Couchtisch liegen. Die Bilder fangen den Tag ein, an dem sie Joshua nach Hause gebracht haben. Den Tag, an dem er offiziell ihr Sohn wurde. Das erste Mal, als er pürierten Kürbis gegessen hat. Sein erstes Weihnachtsfest. Jeden einzelnen Tag betet Claire für das Mädchen, das Joshua fünf Jahre zuvor in der Feuerwache ausgesetzt hat. Nur diesem jungen Mädchen ist es zu verdanken, dass sie und Jonathan jetzt einen Sohn haben. War die junge Frau aus Linden Falls, oder kam sie von weiter weg? War sie jung, ein Teenager, der nicht wusste, was er tun sollte? War sie eine Erwachsene, die bereits mehrere Kinder hatte und sich nicht um ein weiteres kümmern konnte? Vielleicht hat Joshua irgendwo da draußen Brüder und Schwestern, die genauso sind wie er. Vielleicht ist seine Mutter drogenabhängig oder wird misshandelt. Claire weiß es nicht und will es auch nicht wirklich wissen. Sie ist dankbar, dass das Mädchen sich entschieden hat, ihn aufzugeben. In diesem altruistischen oder egoistischen Akt – das wird Claire nie erfahren – hat das Mädchen ihr Leben mit Glück erfüllt.
BRYNN
Ein gutes Dutzend von uns quetscht sich in Missys Einzimmerapartment, das sie sich mit zwei anderen Mädchen teilt. Die einzige Person, die ich kenne, ist Missy, die auf der Couch sitzt und mit einem Jungen rummacht. Ich stehe verlegen in einer Ecke und versuche, nicht hinzuschauen, wie sie wild knutschen, wie er seine Zunge in ihren Mund steckt, wie sie die Hand unter sein Hemd gleiten lässt. Ich trinke einen Schluck aus dem Glas, das mir jemand in die Hand gedrückt hat, und heiße die angenehme Taubheit willkommen, die sich langsam in mir ausbreitet. Ich soll wegen meiner Medikamente keinen Alkohol trinken, aber da ich seit mehreren Tagen keine Pillen genommen habe, ist das schon in Ordnung. Ein Junge, den ich schon öfter auf dem Campus gesehen habe, quetscht sich zwischen den Leuten hindurch und kommt auf mich zu. „Hey“, schreit er, um die laute Musik zu übertönen.
„Hey“, erwidere ich und ärgere mich
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