Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
würden wir uns für unsere Gruppensitzung treffen. Ich bin nicht überrascht, in meinem Zimmer eine weitere ramponierte Babypuppe zu finden, die kopfüber in einem Wassereimer steckt. Ich schlucke schwer. Wut steigt in mir auf. Wie können diese Frauen, die selbst schreckliche Dinge getan haben, es wagen, über mich zu urteilen? Mit einem Tritt, den ich während meines zweiten Jahrs im Fußballcamp perfektioniert habe, schicke ich den Eimer laut scheppernd über den Holzfußboden, sodass das Wasser nur so spritzt und sich zu meinen Füßen eine Lache bildet. Ich höre Schritte auf der Treppe, und vom Flur dringt Gekicher zu mir herein. Schnell drehe ich mich um und werfe die Zimmertür mit solcher Kraft zu, dass die Wände zittern und der Knall durch das ganze Haus hallt.
Nach ein paar Minuten klopft es an der Tür. „Geh weg“, sage ich wütend.
„Allison?“ Es ist Olene. „Geht es dir gut?“
„Alles fein. Ich will nur meine Ruhe haben“, erkläre ich etwas freundlicher.
„Kann ich eine Minute reinkommen?“, fragt Olene. Ich will Nein sagen, will aus dem Fenster klettern und weglaufen, aber ich kann nicht nach Hause und darf die Gegend nicht verlassen. „Allison, mach bitte auf.“
Ich öffne die Zimmertür einen Spaltbreit und schaue direkt in Olenes grüne Augen.
„Mir geht es gut“, behaupte ich erneut, aber das Wasser ausdem Eimer sammelt sich um meine Füße und sickert langsam unter der Tür hindurch in den Flur. Olene wartet, sagt nichts, schaut mich nur mit wissenden Augen an, bis ich beiseitetrete und sie hereinlasse.
Olene sieht den umgefallenen Eimer, die Puppe, die Wasserlache und seufzt. „Das tut mir sehr leid, Allison“, sagt sie. „Du musst ihnen Zeit lassen, das alles zu verdauen. Halte dich bedeckt, mach deine Arbeit, und bald werden sie dich wie jede andere behandeln.“ Sie muss die Traurigkeit in meinem Gesicht entdeckt haben, denn sie will wissen: „Soll ich es bei unserer Gruppensitzung heute Abend zur Sprache bringen?“
„Nein“, gebe ich vehement zurück. Mir ist klar, dass nichts Gutes dabei herauskommt, wenn ich in die Offensive gehe.
„Ich hole dir ein Handtuch.“ Olene tätschelt meinen Arm und lässt mich dann allein mit meinen Gedanken zurück. Ich nehme mir vor, nicht weiter aufzufallen, mich zwei Mal im Monat bei meinem Bewährungshelfer zu melden, meine Arbeit zu tun und mich um meine Sachen zu kümmern. Aber ich weiß, dass sie mich nicht so einfach in Ruhe lassen werden. Sie glauben, besser zu sein als ich. Sie finden, dass es für ihre Taten vollkommen verständliche Gründe gibt. Die Drogen haben sie dazu getrieben, ihr Freund, ihre verkorkste Kindheit. Aber ich? Ich hatte die perfekten Eltern, die perfekte Kindheit, das perfekte Leben. Ich habe keine Entschuldigungen. Olene kehrt zurück und reicht mir einen Stapel Handtücher. „Soll ich dir helfen?“
Ich schüttle den Kopf. „Nein, danke. Ich mach das schon.“ Sie kommt trotzdem ins Zimmer, hebt den Eimer und die Puppe auf und schließt dann im Hinausgehen leise die Tür hinter sich. Ich wische das Wasser vom Boden auf, lege mich dann auf das untere Bett und versuche, die Augen zu schließen. Doch jedes Mal, wenn ich blinzle, sehe ich nur die stumpfen, leblosen Augen der Puppe vor mir.
Wenn ich an jene Nacht zurückdenke, erinnere ich mich daran, dass das Baby nicht geschrien hat, so wie man es im Kino und im Fernsehen sieht. Erst ist da die Mutter, die die Zähne zusammenbeißtund stöhnt, sich auf das Pressen vorbereitet, und dann kommt das Baby und begrüßt die Welt mit einem Schrei, als wenn es wütend darüber wäre, dass man es aus seinem warmen, schummrigen Aquarium in die helle, kalte Welt geholt hat. Doch dieser Schrei kam nicht.
Ich konnte das Grauen in Brynns Augen sehen, als sie mir das Baby hinhielt. Ich sagte Nein, wollte es nicht berühren. Also hat Brynn mit zitternden Händen die Nabelschnur durchtrennt, das Baby vorsichtig in ein Laken gehüllt und es in einer Ecke des Zimmers auf den Boden gelegt. „Du brauchst einen Arzt, Allison“, hat sie besorgt hervorgebracht und mir die feuchten Haare aus der Stirn gestrichen. Ich habe so unglaublich gefroren und so sehr gezittert, dass meine Zähne aufeinanderschlugen. Brynn schaute zu dem regungslosen, stillen Baby hinüber. „Wir müssen jemanden anrufen …“
„Nein, nein“, unterbrach ich sie und versuchte, meine Beine zu bedecken, weil ich mir auf einmal meiner Nacktheit bewusst war. Ich versuchte, meinen Mund zu
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