Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
quadratische kleine Bulldogge, die zum Laden gehörte, kam zu ihr getapst. Sie tätschelte den Kopf des Hundes und hoffte, dass er ihr Versteck nicht verraten würde. Die Frau ging an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken. Aber Charm sah das Gesicht des kleinen Jungen. Das wunderschöne Gesicht, das er von seinem Vater hatte. Die gleiche Nase, die gleichen Ohren, die ein wenig zu weit vom Kopf abstanden. Seine Augen waren dunkelbraun, die Farbe von Schokolade. Sie hatte ihn gefunden.
Ihre Blicke trafen sich – flackerte da ein zartes Erkennen auf? Charm wollte es glauben, wollte, dass er die Tage, Monate, Jahre, die sie getrennt gewesen waren, Revue passieren ließ und sich an sie erinnerte. Aber der Augenblick war zu kurz.
Sie dachte, sie könnte einfach gehen, nachdem sie ihn einmal gesehen hatte. Hatte geglaubt, wenn sie sein Gesicht gesehen und sich vergewissert hatte, dass er eine Familie hatte, die sich um ihn kümmerte und ihn liebte, könnte sie ohne einen Blick zurück endgültig aus seinem Leben verschwinden. Doch da hatte sie falsch gedacht. Sie konnte nicht einfach gehen. Wer waren diese Menschen, bei denen er lebte? Wer waren die Kelbys? Nein, noch konnte sie nicht wieder aus seinem Leben verschwinden. Vielleicht auch nie wieder …
Nachdem sie Joshua dieses erste Mal mit Claire zusammen im Buchladen gesehen hatte, brauchte sie drei Wochen, um erneut genügend Mut aufzubringen und zurückzukehren. Erneut steuerte sie auf die Selbsthilfeabteilung zu, weil die sich in der hintersten Ecke des Ladens im Bereich hinter der Kasse befand und der beste Platz war, um heimlich die Eingangstür zu beobachten und zu sehen, wer kam und ging. Sie tat so, als würde sie einen Ratgeber zum Thema „Glücklich und erfolgreich in Leben und Job“ lesen – der ihr tatsächlich so gut gefiel, dass sie ihn später kaufte.
Sie wollte Joshua nah genug kommen, um sicherzugehen, dass er okay war, dass man sich gut genug um ihn kümmerte. Mit einem einzigen Blick wollte sie ihm sagen: Du warst ein Junge, der geliebt wurde. Du wurdest an einem kühlen Sommerabend geboren, und als ich dich zum ersten Mal in den Armen hielt, war ich plötzlich kein Kind mehr, sondern eine Mutter – deine Mutter , auch wenn es nur für kurze Zeit war. Du warst ein Baby, das es mochte, wenn man ihm den kahlen Kopf rieb, du liebtest es, dir von dem kranken Mann etwas vorsingen zu lassen und von einem jungen Mädchen in den Schlaf gewiegt zu werden. Du hast geweint, bis alle Tränen aus deinem kleinen Körper geflossen waren. Aber dann hast du zu mir aufgeschaut, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt, und es war egal, dass ich in der Nacht nur zwei Stunden Schlaf bekommen habe. Doch dein Geheimnis wog zu schwer. Ich wollte, dass du eine entsetzlich langweilige Kindheit mit einer Mutter und einem Vater hast. Das ist es, was ihr Blick ihm sagen würde.
Und der Blick des Jungen würde erwidern: Ich kenne dich. Ich bin nicht sicher, woher, aber einst kannte ich dich irgendwo, und dieser Ort war warm und gut.
Hinter einem Buch mit dem Titel „Über einen Mann, der dachte, seine Frau wäre ein Hut“ versteckt, wartete Charm. Aus dem Augenwinkel sah sie einen kleinen Jungen in einem weißen T-Shirt in die Kinderabteilung flitzen. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte auf ihn zu, um ihn besser sehen zu können. Er war es, dessen war sie sich sicher. Er lächelte, sah glücklich aus. Dem kleinen Jungen ging es prächtig.
Mittlerweile weiß sie, dass Claire und Jonathan die perfekten Eltern für ihn sind. Sie sucht ihn nicht mehr auf, um ihn zu betrauern oder sich zu versichern, dass sie das Richtige getan hat. Sie kommt, so denkt sie zumindest, um zuzusehen. Zu lernen. Zeugin von etwas zu werden, was sie als Kind nie erfahren hat. Etwas mitzuerleben, das ihre Mutter ihr nie geben konnte. So sollte eine Mutter sein, denkt sie, als sie zusieht, wie Claire sich herunterbeugt, um Joshua zu umarmen, ihm eine Träne abzuwischen oder ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Ich hatte meinen Anteil daran, tröstet Charm sich. Er ist in Sicherheit.
Jetzt tritt sie durch die Eingangstür von Bookends und siehtVirginia hinter dem Tresen stehen. „Hi“, sagt sie atemlos. „Ich habe von dem Einbruch gestern Abend gehört – geht es allen gut?“
„Claire und Joshua haben einen ziemlichen Schreck bekommen, aber sie haben sich schon wieder einigermaßen davon erholt. Aber natürlich bleiben sie heute noch mal einen Tag zu Hause. Claire hat eine leichte
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