Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
– die Gerüche, die Wärme, die Tiere, die durch die Baumkronen und über den Waldfußboden flitzten. Anfangs wusste ich nicht genau, was ich sah. Über uns, in einem künstlichen Baum mit dicken Ästen, saß ein Klammeraffe mit weißen Barthaaren und langen, dünnen Händen. Ich dachte, er hielte eine kleine Decke, die er wie das Cape eines Superhelden um seinen Hals geschlungen hatte. Ich zeigte auf ihn und lachte. „Sieh nur“, sagte ich zu meiner Mutter, die eine Hand gegen die Nase drückte, um die muffigen Gerüche des Regenwaldes nicht wahrzunehmen. „Guck dir mal den Affen an.“
Sie schaute hin, ließ die Hand sinken und griff nach meiner. „Schau nicht hin, Brynn“, sagte sie sanft. „So etwas willst du nicht sehen.“
„Was?“, fragte ich und wollte nun nur noch mehr sehen. „Was?“
Dann sah ich es. Das, was ich für eine Decke gehalten hatte, war tatsächlich der regungslose Körper eines viel kleineren Affen. Der größere Affe – die Mutter, nahm ich an – zog ihr lebloses Kind von ihren Schultern, legte es auf einen Ast und stupste es mit einem Finger an. Der kleine Affe rührte sich nicht.
Ich keuchte, als ich das sah. Die Mutter nahm das Kleine an einem Arm und schwang es sich auf den Rücken, wo es auf der anderen Seite gleich wieder hilflos hinunterglitt. Trotzdem gab die Mutter nicht auf, sie probierte es erneut, hob das Kind an, schüttelte es. Sogar in meinem jungen Alter verstand ich, dass die Mutter den Tod ihres Jungen offensichtlich nicht wahrhaben wollte. Sie konnte nicht akzeptieren, dass ihr Kind tot war. „Oh“, schluchzte ich, und Tränen liefen mir über die Wangen.
„Sieh nicht hin.“ Meine Mutter versuchte, mir die Augen zuzuhalten und mich weiterzuziehen. „Das ist zu traurig.“ Allison interessierte das alles gar nicht. Sie zog nur angeekelt die Nase krausund eilte uns an der Seite meines Vaters über die Brücke voraus.
Neun Jahre später, als Allison sechzehn war, war es das Gleiche. Ich war diejenige, die es sah. Sah das Baby mit den blauen Lippen und den leblosen Armen und dem zur Seite fallenden Kopf. Ich bin diejenige, die es sah und die litt, weil meine Schwester der Tatsache nicht ins Auge sehen wollte, dass sie ein Baby bekam. Ich bezahle immer noch dafür. Sehe immer noch das kleine Mädchen, jede Nacht in meinen Träumen, ihr kleines Gesicht auf dem Körper eines toten Affen, ihre Arme um den Hals der Mutter geschlungen, leblos auf ihrem Rücken hin und her rutschend.
Ich dusche und ziehe mich an, in der Gewissheit, auch zur Zehnuhrvorlesung zu spät zu kommen. Ich laufe die Treppe hinunter, mein Pullover ist auf den Schultern ganz nass von meinen noch feuchten Haaren. Ich laufe an meiner Großmutter vorbei und sage ihr schnell Tschüss. Dann nehme ich meine Tabletten aus der Tasche und schnappe mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Auf dem Weg zum College fische ich eine Pille aus dem Fläschchen, dann noch eine, schlucke sie beide mit einem Schluck Wasser hinunter und zwinge dabei in Gedanken die Medizin in den beiden kleinen Kapseln, mein Hirn zu vernebeln und die Bilder von toten Babys – von Primaten und von Menschen – auszulöschen.
Allison mag verurteilt worden sein, aber ich bin diejenige, die im Gefängnis sitzt und niemals wieder freikommt.
ALLISON
Ich habe Christopher geliebt. Mehr als alles andere. Und vielleicht liebt ein Teil von mir ihn immer noch. Er war süß und gut aussehend, und er hat mir das Gefühl gegeben, das schönste Mädchen auf der Welt zu sein. Er war klug. So klug. Hat mir erzählt, dass er BWL studiert, und erklärt, wie gut er nebenbei als Daytrader war. Er schien damit wirklich Geld zu verdienen. Immer bezahlte er, zückte große Scheine, kaufte mir Sachen. Nach unserer ersten gemeinsamen Woche schenkte er mir ein goldenes Armband, das sehr teuer aussah. Als er es mir umlegte, berührten seine Finger die Innenseite meines Handgelenks und ich zitterte.
„Nur das Armband“, murmelte er mir ins Ohr. „Ich möchte dich sehen, wie du nur das Armband trägst.“ Er zog mir alle Kleidung aus. „Lass mich dich anschauen. Ich möchte dich einfach nur ansehen.“
Es war mir nicht peinlich, ich war nicht beschämt. In seinen Augen lag eine Wildheit, die mir ein wenig Angst machte, aber auf eine aufregende Art. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich mir keine Gedanken über Schule oder Sport oder meine Eltern. Ich fühlte mich frei und geliebt. Ich fühlte mich normal.
Erst als meine
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