Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Gehirnerschütterung und eine geprellte Schulter, aber Joshua wurde nicht verletzt. Der kleine Kerl hat ganz allein den Notruf gewählt.“ Bei dem Gedanken schüttelt Virginia den Kopf.
„Wirklich?“, fragt Charm. „Joshua hat den Notruf gewählt?“
„Ja, das hat er.“ Virginia nickt, als könnte sie es auch nicht glauben. „Die Räuber haben ihm gesagt, er soll den Hörer wieder auflegen, aber er hat es nicht getan. Stattdessen hat er dem Mann in der Vermittlung gesagt, dass ‚böse Männer im Buchladen‘ sind.“
„Guter Junge. Wann wird Claire wieder zurückkommen?“, will Charm wissen.
„Oh, ich denke, morgen. Sie wird noch eine weitere Teilzeitkraft anheuern, weil sie nicht will, dass irgendeiner von uns weiter allein arbeitet. Kennst du irgendjemanden, der einen Job sucht?“
„Ich frage mal bei den anderen Krankenschwesternschülerinnen nach. Haben die Diebe viel geklaut? Hat die Polizei sie geschnappt?“
„Ein paar Hundert Dollar. Und nein, bisher sind sie noch nicht verhaftet worden, soweit ich weiß. Claire und Joshua gehen nachher aufs Polizeirevier, um ihre Aussagen zu machen.“ Virginia wendet sich einer Kundin zu, die ihre Einkäufe zum Bezahlen auf den Tresen legt.
„Sagst du Claire, dass ich da war? Sie soll mir Bescheid sagen, wenn sie irgendetwas braucht.“
„Das mach ich, Charm.“ Virginia fällt etwas ein. „Warum übernimmst du nicht den Teilzeitjob? Claire hätte dich bestimmt sehr gerne hier. Genau wie Joshua.“
„Ich wünschte, ich hätte die Zeit, aber die habe ich nicht. Ich werde mich aber mal umhören. Da findet sich bestimmt jemand.Danke, Virginia.“ Charm verabschiedet sich und tritt hinaus in den Sonnenschein. Sie stellt sich vor, wie es wäre, gemeinsam mit Claire im Buchladen zu arbeiten, sie jeden Tag sehen zu können. Sie weiß, es wäre nicht sicher. Und auch nicht richtig.
Und wenn ich nichts anderes in meinem Leben geschafft habe, denkt sie, zumindest habe ich meinen Teil dazu beigetragen, einem kleinen Jungen ein Zuhause zu schenken, das nicht zerbrochen oder unvollständig ist.
Aus der Gewissheit, dass Joshua niemals den Schmerz kennenlernen wird, den eine Mutter ihrem Kind zufügen kann, zieht sie ihren Trost.
BRYNN
Ich wache auf, weil das Telefon klingelt, und denke, dass es vermutlich wieder Allison ist. Schnell setze ich mich auf. Im Mund habe ich immer noch den Geschmack der Weinschorlen vom Vorabend, und meine Kleidung riecht nach Zigarettenrauch. Ich hätte heute Morgen nicht heimfahren dürfen – ich war definitiv nicht in der Verfassung dafür. Auf meinem Wecker lese ich die Uhrzeit ab. Halb zehn. Ich habe die Vorlesung um acht Uhr verpasst. Großartig. Auf meinem Weg zum Badezimmer fühle ich mich, als würde ich durch Schlamm waten. In meinem Kopf pocht es immer noch. Ich erwarte, meine Großmutter rufen zu hören, dass Allison für mich am Telefon ist, aber das tut sie nicht. Vielleicht hat sie ihr erzählt, dass ich immer noch schlafe. Vielleicht war es gar nicht Allison. Aber ich weiß, dass sie es war. Ich habe eine Art sechsten Sinn, wenn sie anruft, der in mir immer eine gewisse Übelkeit wachruft. Vielleicht kann ich meine Großmutter doch noch dazu überreden, uns eine neue Telefonnummer zuzulegen. Wir haben diese Unterhaltung schon mehrmals geführt, aber sie hat immer beteuert, dass sie Allison nicht aus ihrem Leben ausschließen kann, dass sie auch ihre Enkelin ist. Ich beuge mich rechtzeitig über die Toilette, als ich zu würgen beginne. Mir dreht sich buchstäblich der Magen um, aber außer Galle kommt nichts raus.
Als ich sechs war, sind meine Eltern mit Allison und mir in Minnesota in den Zoo gegangen. Ich schwebte im siebten Himmel, auch wenn mein Vater mich so schnell wie möglich an allen Gehegen vorbeigeschleust hat, um ins Hotel zurückkehren und seine E-Mails aus dem Büro checken zu können. Ich habe absichtlich langsam gemacht, weil ich mir ein genaues Bild von jedem einzelnen Tier machen wollte. Der Zoo hatte dieses faszinierende Regenwald-Ökosystem. In der einen Minute standen wir mitten im Mittleren Westen, und dann traten wir über eine Türschwelle und steckten inmitten des Regenwaldes. Die Luft dampfte und war heiß, und wir waren von riesigen Bäumen undüppiger Vegetation umgeben. Ein feiner Nebel legte sich auf unsere Haut. Wir gingen vorsichtig über eine Hängebrücke, und das laute Rauschen eines Wasserfalls dröhnte in meinen Ohren.
Meine Sinne konnten gar nicht alles auf einmal aufnehmen
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