Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
ein hilfloses, schwaches Nichts. Ich habe sie in den Fluren meiner Highschool herumlaufen sehen, schön angezogen und perfekt geschminkt. Diese Mädchen verbrachten mehr Zeit damit, ihre Klamotten auszusuchen und Make-up aufzulegen, als ihre Algebrahausaufgaben zu machen. Diese Mädchen belegtennoch nicht einmal Algebrakurse, sie lernten nur die Grundrechenarten und kicherten über ihren Lehrer, Mr Dorning, den sie alle so heiß fanden.
Trotzdem ist es ziemlich armselig, dass ich sieben Monate gebraucht habe, um es zu kapieren. Die ständige Übelkeit, die nicht enden wollende Müdigkeit. Ich habe mich in einen Jungen verliebt, und seht, wohin mich das gebracht hat: erst in eine Gefängniszelle in Cravenville und jetzt in eine Resozialisierungseinrichtung.
Ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Ich kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist. Ich kann das kleine Mädchen nicht zurückbringen. Aber ich kann wieder eine gute Tochter und eine liebevolle Schwester sein.
CLAIRE
Als sie sich zu dritt dem Spielplatz von Joshuas neuer Schule nähern, tastet Claire mit den Fingerspitzen nach der empfindlichen Stelle an ihrem Kopf, mit der sie auf dem Boden aufgeschlagen ist, nachdem sie von der Leiter gefallen war. Seit dem Raubüberfall ist eine Woche vergangen, und Joshua ist jede Nacht aufgewacht und hat nach ihr gerufen. Obwohl Jonathan jedes Mal versucht, ihn zu trösten, reicht das nicht. Er muss seine Mutter sehen und bringt seinen Vater dazu, mit ihm zum Schlafzimmer zu gehen, in dem seine Mutter liegt. Er muss in ihr Bett klettern und sein Gesicht ganz nah an ihres bringen. „Du bist hier“, sagt er und beruhigt sich langsam. Er klingt, als wäre er überrascht, dass die beiden Diebe aus dem Buchladen seine Mutter im Laufe der Nacht nicht gestohlen haben. Während des Tages hat er Angst, seine Mutter aus den Augen zu lassen, und bleibt immer in ihrer Nähe, ein Schatten, der ihr überallhin folgt.
„Mach dir keine Sorgen“, versucht Claire ihren Sohn zu beruhigen, ist jedoch selbst verunsichert. Seit dem Überfall hat sie es noch nicht über sich gebracht, in den Buchladen zurückzukehren, und verlässt sich ganz darauf, dass Virginia ihn tagsüber für ein paar Stunden öffnet.
Jonathan zieht die Tür des alten roten Backsteingebäudes auf, und eine stickige Hitze schlägt ihnen entgegen, die Claire an ihre eigene Schulzeit in einem beinahe identischen Gebäude nur ein paar Meilen von hier entfernt erinnert.
„Wer wird dich beschützen?“, fragt Joshua und schaut ängstlich zu seiner Mutter auf. Seine Augen sind müde und rot von einer weiteren schlaflosen Nacht. Claire und Jonathan schauen einander besorgt an. Sie haben darüber gesprochen, mit Joshua zu einem Arzt, einem Therapeuten, zu gehen. Zu jemandem, der ihn von seinen Ängsten befreien kann.
„Ich stelle noch eine weitere Kraft für den Buchladen ein, Joshua“, erklärt Claire ihm. Sie versucht, unbesorgt zu klingen. „Auf die Weise bin ich bei der Arbeit nie allein.“
„Du bist trotzdem verletzt worden, obwohl ich da war“, erinnert er sie.
„Wir bauen eine Alarmanlage ein, Josh“, versichert ihm Jonathan. „Wenn böse Männer kommen, wird der Alarm sie zu Tode erschrecken und die Polizei wird kommen.“
Joshua nickt ernst. Er muss darüber eine Weile nachdenken. „Wie heißt das hier?“, fragt er zum dritten Mal an diesem Morgen, als sie durch die leeren, stillen Flure der Woodrow Wilson Elementary School gehen.
„Das ist die Wilson School“, sagt Jonathan und versucht, ihn an die Hand zu nehmen. Joshua zieht sie weg und schiebt seine Finger in Claires schweißnasse Hand.
„Die ist ganz schön groß.“ Verunsichert blickt Joshua sich um.
„Sei nicht traurig“, versucht Jonathan, ihn aufzumuntern. „Es wird dir hier gefallen.“
„Ich gehe nicht zur Schule“, sagt er mit einer Endgültigkeit, die Claire inzwischen nur zu gut kennt.
Die Kelbys haben den offiziellen Registrierungstag der Schule verpasst, der vor drei Tagen stattgefunden hat. Sie hatten vorgehabt, hinzugehen, waren ins Auto gestiegen, die fünf Straßenblocks gefahren, auf den Schulparkplatz eingebogen. Aber das war für Joshua alles viel zu überwältigend gewesen. Massen an aufgeregten, ungestümen Kindern aller Altersklassen, und ihre Familien strömten in das Gebäude hinein und aus ihm heraus. Verängstigt hat Joshua sich an seinen Kindersitz geklammert und sich geweigert, das Auto zu verlassen. Also sind sie direkt wieder nach Hause
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