Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
über meinen Handgelenken, und die Schuhe drücken, aber ich sehe zumindest ansatzweise professionell aus und hoffe, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Ich muss in den nächsten Tagen beim Haus meiner Eltern vorbeischauen und ein paar meiner alten Sachen holen, aber bisher habe ich die beiden noch nicht zu fassen bekommen. Mein Vater ist beruflich viel unterwegs, und meine Mutter hat ihre ganzen Projekte und ihre Wohltätigkeitsarbeit. Sie sind einfach viel beschäftigte Leute.
„Du siehst gut aus“, sagt Olene. „Bist du sicher, dass ich dich nicht fahren soll?“
„Ja, danke. Mir macht es nichts aus, zu Fuß zu gehen.“ Ich weiß es neuerdings sehr zu schätzen, dass ich einfach rauskann, wann immer ich will, dass ich jederzeit die wärmende Sonne aufmeinem Gesicht, die Nachtluft auf meiner Haut spüren kann.
Als ich am Buchladen ankomme, hat er gerade aufgemacht. Ich sehe eine Frau, von der ich annehme, dass es sich um Mrs Kelby handelt, durch das Schaufenster. Sie lächelt über etwas, das einer ihrer Kunden gesagt hat, und lässt den Einkauf in eine Papiertüte gleiten, auf die der Name des Buchladens gestempelt ist. Ich betrachte mein Spiegelbild in der Scheibe. Dann atme ich tief durch und öffne die Tür.
„Hi“, sage ich selbstbewusster, als ich mich fühle, und gehe zum Tresen vor. Die Frau ist groß, aber nicht so groß wie ich. Sie wirkt stark und fit, hat leicht gebräunte Haut und dickes goldfarbenes Haar, das ihr lose auf die Schultern fällt. Sie trägt ein hippes Brillengestell aus Schildpatt. „Ich heiße Allison Glenn“, stelle ich mich vor und strecke die Hand aus, so wie ich es geübt habe. „Ich bin hier, um mich für die Teilzeitstelle zu bewerben.“ Hier wird es jetzt knifflig. Erinnere ich sie daran, dass meine Bewährungshelferin diesen Termin vereinbart hat? Erwähne ich meine Vergangenheit? Olene und ich haben die Vor- und Nachteile darüber, dass ich meine Verurteilung als Erste erwähne, ausgiebig diskutiert. Trotzdem bin ich mir immer noch nicht sicher, was ich tun soll.
Mrs Kelby lächelt mich an. Es ist ein echtes, ehrliches Lächeln. Nicht die Art Lächeln, die aussieht wie ins Gesicht gemeißelt. Das ist doch ein gutes Zeichen.
„Allison“, sagt sie. „Danke, dass du vorbeigekommen bist. Es ist schön, dich kennenzulernen. Setz dich doch, damit wir uns ein wenig unterhalten können. Es tut mir leid, dass wir vermutlich unterbrochen werden, aber wir sind hier im Moment ein wenig knapp besetzt.“
Wir setzen uns, und ich schlage die Beine übereinander, falte die Hände im Schoß und warte auf die erste Frage.
„Warum fangen wir nicht damit an, dass du mir ein wenig von dir erzählst?“
„Nun, ich bin einundzwanzig Jahre alt“, fange ich nervös an. „In der Highschool war ich immer eine Einserkandidatin undMitglied der National Honor Society …“ Ich halte inne. Meine Stimme ist hoch und muss lächerlich klingen. Mrs Kelby schaut mich erwartungsvoll an. Ich atme tief ein. „Mrs Kelby, ich würde wirklich gern für Sie arbeiten. Ich habe in der Vergangenheit einige fürchterliche Fehler gemacht, Fehler, die nie wieder passieren werden.“ Ich beuge mich vor und sehe ihr direkt in die Augen. „Ich fange neu an und wäre so dankbar, wenn Sie …“ Mein Kinn fängt an zu zittern, und mir steigen Tränen in die Augen. „Wenn Sie mir nur eine Chance geben.“
Mrs Kelby ist einen Moment lang still, sieht mich nur an, ihre Miene ist unergründlich.
„Weißt du, Allison, ich denke, das könnte für uns beide gut funktionieren. Olene hält große Stücke auf dich, und ich kann die Hilfe wirklich gut gebrauchen.“ Mrs Kelby lächelt, und in ihren Augen liegt eine so unglaubliche Freundlichkeit. Eine Freundlichkeit, die ich seit langer, langer Zeit nicht mehr gesehen habe.
Ich räuspere mich und wische schnell die Tränen fort. „Danke“, sage ich erleichtert.
„Großartig.“ Sie strahlt förmlich, als sie aufsteht. „Kannst du übermorgen anfangen? Und von neun bis ungefähr vier arbeiten?“
Ich nicke. „Das wäre fantastisch. Danke. Ich danke Ihnen vielmals!“
Erneut strecke ich die Hand aus, und sie ergreift sie, ohne zu zögern.
„Gern geschehen. Es ist unheimlich schön, hier zu arbeiten. Übermorgen wirst du dann auch meinen kleinen Jungen kennenlernen. Er heißt Joshua.“
„Da freu ich mich schon drauf. Und, Mrs Kelby“, sage ich, und die Gefühle drohen mich erneut zu übermannen. „Ich werde für Sie einen wirklich guten Job
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