Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
machen. Es wird Ihnen nicht leidtun, mich angestellt zu haben.“
Ich ertappe mich dabei, dass ich beinah hüpfend zum Gertrude House zurückkehre. Ich will jemandem von dem Gespräch erzählen. Ich will, dass jemand meine freudige Aufregung mit mirteilt. Doch der einzige Mensch, den ich jetzt anrufen möchte, ist Brynn.
Bevor ich ins Gefängnis gekommen bin, hatte ich jahrelang denselben Traum – oder besser gesagt Albtraum. Ich glaube nicht, dass man von einem Mädchen wie mir erwarten würde, solche Träume zu haben. Man würde an Flüsse und Babys denken und wäre überrascht. In meinem Traum bin ich zu Hause und lerne für die Aufnahmeprüfung fürs College. Ich beuge mich über meine Bücher und mache mir wilde Notizen in meinem Notizbuch, als der Wecker losgeht. Das ist es. Es ist so weit. Ich muss zum Test. Sorgfältig packe ich meine Bücher und Notizen in meine Tasche und spitze sieben Nummer-2-Bleistifte an. Es müssen Nummer-2-Bleistifte sein; das hat was damit zu tun, dass der Computer die Antwortbögen auswertet. Ganz ruhig gehe ich zu meiner Zimmertür. Ich bin bereit, bin mir sicher, dass ich diese Prüfung mit Bravour bestehen werde. Ich greife nach dem Türknauf, doch er lässt sich nicht drehen.
Ich versuche es wieder, aber nichts. Ich bin eingesperrt. Panisch gehe ich zum Fenster und versuche, es hochzuschieben, doch es ist ebenfalls verschlossen. Panik macht sich in mir breit, ich bekomme keine Luft. Ich muss aus dem Zimmer raus, muss diese Prüfung machen. Wild hämmere ich gegen die Tür, rufe nach meiner Mutter, meinem Vater, meiner Schwester, irgendjemandem, der mich rauslassen kann. Ich gehe zurück ans Fenster und klopfe daran, versuche, die Aufmerksamkeit der unten vorbeigehenden Fußgänger zu erregen. Niemand bemerkt mich. Ich schlage mit meinen flachen Händen ans Fenster. Meine Finger kribbeln und sind vom Sauerstoffmangel ganz kalt. Ich sehe, dass sie blau werden. Ich sterbe. Ich muss das Glas einschlagen, und in meiner Verzweiflung fange ich an, mit meinem Kopf gegen die Scheibe zu hämmern. Sie erzittert und bricht. Ich spüre warmes, feuchtes Blut auf meiner Stirn. Es ist egal. Ich schlage noch einmal mit dem Kopf gegen das Fenster, und wieder entsteht ein kleiner Riss. Es tut nicht weh, und mehr als alles andere muss ich hier rauskommen. Wieder und wieder stoße ich mit dem Kopf zu,bis ich durch das Blut nichts mehr sehen kann und die ganzen kleinen Splitter in meiner Haut stecken fühle.
Dann wache ich auf – in meinem Bett oder der Zelle – in Schweiß gebadet und trotzdem vor Kälte zitternd.
Ich werde nicht aufgeben. Niemals. Ich werde Brynn dazu bringen, mit mir zu sprechen, egal, was ich dafür tun muss.
CLAIRE
Joshuas erster Schultag fängt hoffnungsvoll an. Seit unserem Besuch im Klassenzimmer und dem Treffen mit Mrs Lovelace schreckt Joshua nicht mehr vor dem Besuch der Vorschule zurück. Ehrlich gesagt scheint er sich sogar zu freuen.
Er überlegt stundenlang, was er anziehen will, und entscheidet sich schließlich für ein schlichtes rotes T-Shirt und seine Lieblingskakihosen. „Du siehst sehr hübsch aus, Joshua“, lobt Claire sein Outfit. Er lächelt und wippt in seinen neuen Turnschuhen stolz vor und zurück.
Auf den Anblick von Hunderten von Kindern, die draußen herumlaufen und darauf warten, dass die Glocke läutet, ist Claire nicht vorbereitet. „Organisiertes Chaos“, sagt sie und wirft einen Blick nach hinten. Joshua starrt fasziniert auf die Menschenmenge.
„Wow“, murmelte Jonathan. „Was machen wir? Lassen wir ihn einfach hier raus und schicken ihn … in die Höhle des Löwen?“
„Nein, wir können ihn reinbringen“, antwortet Claire. „Lass uns aber noch ein wenig warten, bis die Glocke klingelt und die meisten Kinder reingegangen sind.“
„Ich will da nicht rein“, meldet sich Joshua vom Rücksitz. Er klingt verängstigt. „Fahren wir wieder nach Hause.“
„Alles wird gut“, beruhigt Jonathan ihn. „Komm, schauen wir noch mal nach, ob du auch alles in deinem Rucksack hast, was du brauchst.“
„Ich will nicht gehen“, betont Joshua erneut. Die Anspannung in seiner Stimme ist deutlich zu hören.
„Komm schon, Kumpel. Wir gehen noch mal deine Sachen durch und gucken, dass du auch genügend Wachsmalstifte hast.“ Stück für Stück suchen Jonathan und Joshua gemeinsam seinen Rucksack durch und stellen sicher, dass er alles dabeihat, was er zum Schulanfang braucht. Claire lächelt, als sie die beiden zusammen sieht,
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