Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
früher mit ihren Freundinnen Klingelstreiche gemacht hatte, schellte und lief davon.
BRYNN
Das Telefon klingelt, als ich die Tür zum Haus meiner Großmutter öffne, und Milo kommt auf mich zugestürmt, um mich zu begrüßen und an meinen Taschen zu schnüffeln, in denen ich immer ein paar Leckerlis habe. Die Katzen Lucy und Leith streifen mir um die Beine und miauen hungrig. „Nur eine Minute, Mädels“, vertröste ich sie fürs Erste. Das Telefon klingelt weiter, und ich rufe: „Grandma! Grandma! Telefon.“
Ich lasse es klingeln, gehe zum Regal und hole zwei Dosen Katzenfutter herunter. Die Stimme meiner Großmutter erfüllt den Raum. „Wir können gerade nicht ans Telefon gehen. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer. Wir rufen so bald wie möglich zurück.“ Nach dem Piepton höre ich Allisons Stimme. Genervt lasse ich die Dosen mit dem Katzenfutter fallen, und sie schlittern über die Arbeitsplatte in der Küche. Schnell laufe ich die Treppe hinauf, um nicht zu hören, was meine Schwester aufs Band spricht. Warum kann sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Ihre Stimme folgt mir die Treppe hinauf, und ich bleibe wie erstarrt stehen. „Brynn, bitte, geh ran, bitte, geh ans Telefon!“ Ich schüttle den Kopf und gehe weiter.
„Brynn! Es geht um Dad! Bitte“, fleht sie. Langsam kehre ich um und gehe die Treppe hinunter. „Dad ist im Krankenhaus. Mom ist ein Wrack. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Du musst mit mir reden. Bitte.“ Allison weint jetzt, und ich nähere mich dem Telefon. „Brynn, ich brauche dich“, wimmert sie.
Ich versuche, nicht an die Einzelheiten jener Nacht zu denken. Aber es war das einzige Mal in meinem Leben, dass meine Schwester mich um Hilfe gebeten hat. Daran erinnere ich mich. An dieses kleine Detail erinnere ich mich, wenn ich nachts nicht schlafen kann. Ich war immer diejenige, die ihre Schwester gebraucht hat, diejenige, die vor den Nachbarskindern beschützt werden musste, vor den Eltern, den Lehrern. Vor mir selbst. Und sie hat es mich nie, niemals vergessen lassen. Es war so lange her,dass sie mir freiwillig und gern geholfen hat. Nein, eigentlich war es immer widerwillig geschehen. Es war nicht so, dass es schwer für Allison gewesen wäre, mir zu helfen. Ihr fiel alles leicht. Aber als wir älter wurden und die Unterschiede zwischen uns deutlicher zutage traten, schaffte sie es immer, dass ich mich klein und unterlegen fühlte.
Allison hat mir Brief um Brief geschrieben und immer wieder das Gleiche gesagt: Es tut mir leid . Als wenn das alles wiedergutmachen würde. Was tut dir leid? will ich sie fragen. Dass du mich behandelt hast, als wäre ich eine Nervensäge? Tut es dir leid, dass du mich dazu gebracht hast, dir bei der Geburt zu helfen? Oder deine Geheimnisse zu bewahren? Ich öffne ihre Briefe gar nicht mehr; ich werfe sie direkt in die unterste Schublade meiner Kommode. Es tut weh, oder? will ich sie fragen. Es tut weh, Hilfe zu brauchen, und es tut weh, darum betteln zu müssen. Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid. Das habe ich ständig gesagt. Für alles. Aber nun nicht mehr.
Wem tut es nun leid? will ich sie fragen. Wem tut es nun leid?
Ich strecke die Hand aus und nehme den Telefonhörer ab.
CHARM
Charm geht gerade spazieren, als Gus stirbt. Es ist ein seltener sonniger Tag, und sie muss mal raus aus dem Haus. Kurz schaut sie noch mal nach ihrem Stiefvater, um ihm Tschüss zu sagen, bevor sie geht – das tut sie jetzt jedes Mal, wenn sie sein Zimmer verlässt – nur für den Fall … Sie beugt sich zu ihm hinunter, gibt ihm einen Kuss auf die Wange und flüstert: „Bis später.“ Das ist ihre Standardverabschiedung. Gus hat die letzten beiden Tage durchgehend geschlafen. Nicht ein einziges Mal hat er die Augen geöffnet oder etwas gesagt. Wie sehr sehnt sie sich danach, ihn noch einmal „Tochter“ sagen zu hören. So hat sie außer ihm nie jemand genannt – nicht einmal ihre Mutter. Während sie so darüber nachdenkt, fällt ihr auf, dass es ein sehr schönes Wort ist. Tochter. Es beschreibt ewige Zusammengehörigkeit und bedingungslose Liebe.
Als sie von ihrem Spaziergang am Fluss zurückkommt, ist er fort. Er atmet nicht mehr, seine Augen sind geschlossen. Er hat seinen Frieden gefunden.
Charm kann nicht allein in Gus’ Haus bleiben, und Jane bietet ihr an, sie abzuholen und mit zu sich zu nehmen, um zumindest die Nacht, gern auch länger bei ihr zu bleiben. Der Leichenwagen war bereits da und ist schon wieder
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