Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
weg. Der lange schwarze Wagen, der einem Käfer gleich die Auffahrt hinaufgekrochen kam, hatte Charm überrascht. Sie hatte den Wunsch verspürt, ihre Schuhe auszuziehen und sie nach ihm zu werfen. Der Mann vom Bestattungsinstitut war sehr nett, er hatte eine angenehme, ruhige Stimme, die Charm das Gefühl vermittelte, er würde sich gut um Gus kümmern. Er hat ihr erklärt, dass Gus bereits alle Vorbereitungen für seine Beerdigung getroffen habe – einen Sarg ausgewählt, die Musik, die Blumen, alles. Der Bestatter fragte Charm, ob ihr etwas Bestimmtes vorschwebe, was Gus zu seiner Beerdigung tragen solle. Als ob er es danach wieder ausziehen könne.
Doris, Gus’ Lieblingsehrenamtliche aus dem Hospiz, hilft ihr, etwas herauszusuchen. Gemeinsam gehen sie seinen Kleiderschrankvoller Kakihosen und Oxfordshirts durch, die ihm nun alle zu groß sind. Aus der hintersten Ecke des Schranks holt Doris einen in einer Plastikhülle steckenden schwarzen Anzug hervor, der ordentlich auf einem Bügel hängt.
„Was hältst du davon?“, fragt sie und hält ihn hoch.
„Ich weiß nicht …“ Charm sieht ein wenig zweifelnd aus. Gus hat nie einen Anzug getragen.
„Er muss ihn aus einem bestimmten Grund aufgehoben haben.“ Doris nimmt die Plastikhülle ab und prüft die Größe des Anzugs. „Der sollte ihm passen.“
„Ich denke, dann ist es in Ordnung.“ Charm zuckt mit den Schultern. Mit einem Mal ist sie sehr müde. Ihr brennen die Augen, und sie will nur noch, dass der Tag endlich vorbei ist.
„Leg dich ein wenig hin“, schlägt Doris ihr vor. „Ruh dich ein bisschen aus.“
„Mir geht es gut. Ich setze mich einfach draußen hin und warte, bis Jane kommt.“
Doris verspricht, den Anzug beim Beerdigungsinstitut abzugeben, und geht in die Küche.
Charm sitzt auf den vorderen Stufen und wartet, dass Jane kommt, um sie abzuholen. Etwas Passendes für Gus herauszusuchen hat sie an ihre eigene Kleidung denken lassen. Sie hat nichts, was man auf einer Beerdigung anziehen könnte. Weder einen Rock noch ein Kleid oder auch nur ein Paar schwarzer Hosen. Nur ihre Krankenschwesternkluft und Jeans. Sie hat auch keine anderen Schuhe als die Schwesternschuhe mit den dicken Sohlen und ein Paar alte Turnschuhe. Charm sieht sie sich an. Sie sind schmutzverkrustet von dem Spaziergang am Flussufer, und neben dem großen Zeh bildet sich langsam ein Loch. Charm kann zu Gus’ Beerdigung weder ihre Krankenhauskleidung noch ausgeblichene Jeans und ein T-Shirt tragen. Erneut überkommt sie Panik, doch sie ist anders als das furchtbare Gefühl, Gus zu verlieren. Es ist mehr wie eine Plastiktüte über dem Kopf, das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Charm steht schnell auf und läuft zurück ins Haus, wo Doris gerade dabei ist,Gus’ Bett abzuziehen.
„Was ist los, Charm?“, fragt Doris alarmiert, als sie die Tränen sieht, die Charm über das Gesicht laufen.
„Was soll ich nur tun?“, fragt Charm und hebt in einer hilflosen Geste beide Hände. „Ich habe doch nichts außer ihm.“
„Oh Charm.“ Doris lässt das Laken fallen, das sie in der Hand gehalten hat, und eilt an ihre Seite, um sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Charm ist knappe dreißig Zentimeter größer als Doris, und ihre Tränen tropfen auf Doris’ dauergewelltes Haar. „Alles wird gut. Gus hat dich geliebt. Er hat für dich vorgesorgt.“
Charm weint weiter, sie versteht nicht, was Doris sagen will. „Er ist tot.“
„Charm.“ Doris lässt sie los und tritt einen Schritt zurück, damit sie ihr ins Gesicht schauen kann. „Gus hat dir alles hinterlassen. Das hat er mir gesagt. Sein Haus, seine Ersparnisse, seine Lebensversicherung.“ Erneut zieht Doris Charm in die Arme, und Charm fühlt sich besser.
Sie hören beide das Klopfen an der Haustür, und Charm weiß, dass Jane gekommen ist. „Ich geh schon“, sagt Doris und wischt sich über die verweinten Augen. „Wasch du dir das Gesicht, und schnapp dir deine Tasche.“ Charm geht ins Bad und lässt das Wasser laufen. Sie starrt sich im Spiegel über dem Waschbecken an und kann nicht glauben, was Doris ihr erzählt hat. Ihr Gesicht ist ganz fleckig, und ihre Augen sind vom Weinen geschwollen. Sie spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht. Das fühlt sich gut an. Dann öffnet sie das Medizinschränkchen, um ein wenig Zeit zu schinden. Charm will nicht, dass Jane sie so sieht; sie hat ihr immer gesagt, wie tapfer und stark sie ist. Charm will, dass Jane weiterhin so über sie denkt.
In dem
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