Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Schränkchen sind Rasierklingen und Rasierschaum, Zahnpasta und Wattestäbchen. Daneben liegen verschreibungspflichtige Medikamente, Pflaster und ein Fingernagelknipser. Die Flasche mit dem Aftershave, die sie Gus zwei Jahre zuvor zu Weihnachten geschenkt hat. Vorsichtig nimmt sie sie heraus und öffnet den Deckel. Gus’ Geruch – nicht der des kranken,sterbenden Mannes, sondern der Geruch, an den sie sich vor seiner Krankheit erinnert, eine Mischung aus dem Aftershave und seinem Haarshampoo – ist ihr so vertraut, dass sie lächelt. Das ist der Geruch, den sie in Erinnerung behalten will. Sie macht den Deckel wieder drauf und drückt sich die Flasche an die Brust. Dann geht sie in Richtung Wohnzimmer, bleibt aber mit einem Mal stehen und kehrt ins Badezimmer zurück. Sie nimmt Gus’ Shampoo aus der Dusche, eine billige No-Name-Marke, die nach grünem Apfel riecht. Mit ihren beiden Trophäen in der Hand geht sie raus, um Jane zu treffen. Noch weiß sie nicht, ob sie je zurückkehren wird.
CHARM
Gus’ Beerdigung ist schrecklich und schön zugleich. Charm fühlt sich albern in ihrem neuen Kleid und den hochhackigen Schuhen, obwohl sie sich für Gus hat schick machen wollen, um ihm für alles zu danken, was er für sie getan hat. Doch das Kleid passt ihr nicht richtig, und sie kann in den Schuhen nicht laufen, ohne umzuknicken. In der Kirchenbank, wo niemand sie sehen kann, zieht sie sie aus. Gemeinsam mit Jane und Doris sitzt Charm im vorderen Bereich der Kirche und ist überrascht, wie viele Menschen gekommen sind, um Gus Lebewohl zu sagen. Viele davon sind Freunde aus Feuerwehrzeiten, und alle wischen sich die Tränen aus den Augen.
Charm sieht ihre Mutter, die ziemlich weit hinten und allein in der Kirche sitzt. Ob der Unverfrorenheit ihrer Mutter, hier aufzutauchen, ist Charm einen Augenblick lang gekränkt, sogar wütend, aber diese Gefühle verschwinden schnell wieder. Reanne sieht wunderschön aus, auch wenn sie mit ihrem tief ausgeschnittenen schwarzen Kleid und den zwölf Zentimeter hohen Pumps vollkommen unpassend für diesen Anlass gekleidet ist. Charm fällt auf, dass Binks ihre Mutter nicht begleitet, und sie ist positiv überrascht, dass Reanne so viel Anstand besitzt, Gus ihren Respekt zu erweisen, ohne dass sie einen anderen Mann an ihrer Seite hat. Über die Jahre hat Charm sich daran gewöhnt, dass ihre Mutter immer irgendeinen Mann dabeihat. Ohne Binks wirkt sie kleiner, weniger bedeutend. Mehr als alles andere möchte Charm, dass ihre Mutter den Gang hinunterkommt und sich neben sie in die Kirchenbank setzt. Sie will, dass ihre Mutter sie umarmt und tröstet.
Aber Reanne bleibt im hinteren Teil der Kirche und Charm in ihrer Reihe. Der Priester erzählt viele lustige Geschichten über Gus, und alle lächeln durch ihre Tränen hindurch. Gus war früher ein freier, glücklicher Geist. Ein starker Mann. Das muss offensichtlich gewesen sein, bevor Mom mit ihm fertig war, denkt Charm bitter. Ungefähr nach der Hälfte des Gottesdiensteshört sie das typische Weinen ihrer Mutter. Charm dreht sich um und sieht, dass ihre Mutter sich ein Taschentuch vor das Gesicht hält. Irgendwie schafft sie es, dass sie sogar beim Heulen attraktiv aussieht.
Nach der Messe wartet Reanne, bis Charm den hinteren Teil der Kirche erreicht hat, und versucht, sie zu umarmen, aber Charms Sehnsucht nach Zuneigung ist schon wieder verschwunden, und sie zuckt vor ihrer Mutter zurück. Reanne schafft es trotzdem, nach Gus’ Testament zu fragen, will wissen, ob er ihr zufällig auch eine Kleinigkeit hinterlassen hat.
„Darüber weiß ich noch gar nichts“, sagt Charm und tritt vor die Kirchentür. Es ist kalt und bedeckt. Charm hofft, dass es erst nach der Beerdigung regnen wird.
Reanne folgt ihr auf die steile Treppe vor der Kirche. „Wegen deines Bruders …“, fängt sie an, und Charm schaut sich suchend nach Christopher um.
„Ist er hier?“, will sie wissen und versucht, nicht zu besorgt zu klingen. Die Vorstellung, dass Christopher nach Linden Falls zurückkehren und in der gleichen Stadt wohnen könnte wie Joshua, verursacht ihr ein flaues Gefühl in der Magengegend.
„Nein, aber er hat angerufen“, erklärt Reanne und sieht sich um. Jane und Doris warten in respektvollem Abstand und geben Charm und Reanne Raum, miteinander zu sprechen. Charm wünscht sich, die beiden würden herüberkommen und sie retten. „Er fing wieder an, von dir zu reden. Über irgendwas, als du noch in der Highschool warst. Es ist
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