Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Titel: Vermächtnis des Schweigens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Gudenkauf
Vom Netzwerk:
wieder lese ich die Worte, ohne deren Sinn zu verstehen. Meine Gedanken kreisen nur darum, ob Brynn kommen wird oder nicht. Ich höre nicht, dass sie an den Tisch tritt, bis sie mit ihrer unverkennbaren Stimme fragt: „Allison?“
    Ich schaue zu meiner Schwester auf, und sie sieht noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung habe. Klein, mit dunklen, zerzausten Haaren. Sie ist schlicht und ganz in Schwarz gekleidet. Dunkle Schatten liegen unter ihren Augen und heben sich stark von ihrer blassen Haut ab. Sie beißt sich auf die Unterlippe und schaut mich unsicher an.
    „Brynn“, sage ich und stehe auf. Ich strecke die Arme aus, um sie zu umarmen. Sie ist zu dünn, beinah so fein und zerbrechlich wie ein Vogel. „Es ist so schön, dich zu sehen. Danke, dass du gekommen bist.“ Meine Stimme klingt sehr förmlich. Ich muss mich daran erinnern, dass das hier Brynn ist. Einfach nur Brynn, meine Schwester.
    Sie sagt nichts, löst sich aus meiner Umarmung und setzt sich mir gegenüber auf die Bank. Ich nehme ebenfalls wieder Platz, und mit einem Mal fehlen mir die Worte. Zum Glück kommt in diesem Augenblick die Kellnerin, um Brynns Bestellung aufzunehmen. „Einen Tee, bitte. Entkoffeiniert, wenn möglich“, ordert sie. An mich gewandt erklärt sie: „Koffein lässt mich nicht schlafen.“
    „Möchtest du auch was zu essen bestellen?“, frage ich. „Rechnung geht auf mich.“
    „Nein, danke.“ Nervös lässt sie den Blick durch das Restaurant schweifen.
    „Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll“, gebe ich zu undversuche zu lächeln. „Jetzt, wo du da bist, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Es gibt so viel, das ich sagen will , hab aber keine Ahnung, wie.“
    „Das ist mal was Neues“, erwidert Brynn sarkastisch. Sie spielt mit ihrer Serviette. „Dass du nicht weißt, was du tun sollst.“
    „Hast du Dad schon gesehen?“, wechsle ich das Thema.
    Sie nickt. „Er sieht fürchterlich aus. Aber die Ärzte sagen, dass er wieder in Ordnung kommt.“ Wir sitzen ein paar Minuten schweigend beisammen. Brynn sieht aus, als könne sie es kaum erwarten, hier wieder wegzukommen.
    „Es tut mir leid“, platze ich heraus. „Es tut mir so leid.“
    „Das hast du mir bereits gesagt“, erwidert sie sachlich und fängt an, die Papierserviette in feine Streifen zu reißen.
    „Ich habe es dir in Briefen geschrieben und am Telefon gesagt, aber niemals von Angesicht zu Angesicht.“ Brynn fährt fort, die Serviette zu zerschreddern, bis es aussieht, als wäre der Tisch mit Konfetti bedeckt. „Brynn, bitte, schau mich an.“ Ich beuge mich so weit über den Tisch, wie ich nur kann. Sie hebt das Kinn und blickt mich ruhig an. In ihren Augen liegt ein harter, gefühlloser Ausdruck. „Brynn, es tut mir wirklich leid, dass ich dich in die Situation gebracht habe. Ich wusste es besser. Ich habe einen dummen Fehler gemacht und dich mit hineingezogen. Ich weiß, nach allem, was passiert ist, bedeutet es nicht viel, aber du hast mir geholfen, wirklich. Ich wäre niemals in der Lage gewesen …“
    Ich höre auf zu sprechen, weil Brynns Gesicht zu einer steifen Maske eingefroren ist. Sie ist nicht bereit, über die Einzelheiten jener Nacht zu sprechen. „Nun, wie auch immer, es tut mir leid, und ich bin froh, dass du hier bist“, beende ich den Satz. „Erzähl mir von deiner Ausbildung. Ich will alles darüber erfahren.“
    „Ich gehe besser nach Hause, bevor Mom anfängt, sich Sorgen um mich zu machen“, sagt Brynn mit einem Blick auf die Uhr.
    „Du wohnst zu Hause?“ Es gelingt mir nicht, heiter zu klingen. Dass Brynn zu Hause wohnen darf, schmerzt mich. „Mom hat dir angeboten, bei ihr zu bleiben?“
    „Was hatte sie denn für eine Wahl?“ Brynn stößt einen missbilligendenLaut aus. „Wo soll ich denn sonst hin? Ich bleibe nur bis morgen, dann fahre ich zurück zu Grandma.“
    „Jetzt schon?“, frage ich überrascht. „Du bist doch gerade erst gekommen.“
    „Ich bin müde. Ich will einfach nur ins Bett.“ Sie hat dunkle Ringe unter den Augen und versteckt ihr Gähnen hinter der flachen Hand.
    Ich lege ein paar Geldscheine auf den Tisch, und gemeinsam gehen Brynn und ich in den kalten Abend hinaus.
    „Willst du mir nun von ihm erzählen oder nicht?“, fragt Brynn da plötzlich. „Ich meine, deshalb bin ich doch hier, oder nicht? Dad interessiert dich doch überhaupt nicht. Du willst mich nur hierhaben, weil du den kleinen Jungen gefunden hast.“
    „Das ist nicht fair“, sage ich beleidigt. „Ich

Weitere Kostenlose Bücher