Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
sich um. „Ja“, sagt Brynn. „Ich erinnere mich an Mousie.“
BRYNN
Ich erinnere mich tatsächlich. Rückblickend kommt es mir dumm vor, aber Mousie war das, was einem Haustier am nächsten kam, als ich noch zu Hause lebte. Unser Vater ist oft geschäftlich unterwegs gewesen und hat von seinen Reisen immer kleine Fläschchen Shampoo und Bodylotion und winzige Seifenstücke aus den Hotels mitgebracht. Ich muss ungefähr vier gewesen sein, als ich anfing, ein Seifenstück, das mein Vater mitgebracht hatte, mit anderen Augen zu sehen. Ich fing an, es in meiner Tasche mit mir herumzutragen, und tat so, als würde ich es mit Käsestückchen füttern. Ich nannte es Mousie, und es begleitete mich überallhin. Nachts schlief es mit in meinem Bett, und wenn ich tagsüber spielte, lag es ganz in meiner Nähe. Meine Mutter verdrehte nur die Augen und sagte mir, ich solle das Seifenstück vom Abendbrottisch nehmen, und mein Vater lachte unheilvoll und sagte, er müsse gleich unter die Dusche.
Allison war damals fünf und die Einzige, die meine Beziehung zu Mousie ernst nahm. Sie half mir, Mousie ein Bett aus einem Schuhkarton zu bauen und die seitlichen Wände mit Bildern von Mäusen und Käsehappen zu dekorieren. Wann immer Dad so tat, als wolle er mir Mousie wegnehmen, um mit ihr zu duschen, stellte sie sich ihm in den Weg und brüllte ihn an, uns in Ruhe zu lassen.
Als wir älter wurden, wurde aus Allison die Vorzeigetochter, das Mädchen, das immer alles richtig machte und Verständnis für seine schlichte kleine Schwester hatte. Ich bin überrascht, dass Allison sich an Mousie erinnert, überrascht, dass sie sich so sehr bemüht, wieder an meinem Leben teilhaben zu können. Vielleicht hat Allison sich verändert. Vielleicht hat sie mich aus den richtigen Gründen gebeten herzukommen. Vielleicht wird alles wieder gut.
Dann denke ich an den kleinen Jungen, den ich morgen im Buchladen kennenlernen werde, was mir unweigerlich seine kleine Schwester in Erinnerung ruft. Sofort beginnt mein ganzerKörper zu kribbeln. Es ist ein vertrautes Gefühl, das sich nicht ignorieren lässt. Ich höre das Weinen des kleinen Babys und fange laut an zu summen, um das Geräusch auszublenden, aber die Leute schauen mich komisch an. Also steige ich in mein Auto und fahre davon.
ALLISON
Ich weiß nicht, was ich von meinem ersten Treffen mit Brynn erwartet habe, aber ich glaube, es war ganz okay. Sie ist nicht weggelaufen, sie hat nicht geheult oder mich angeschrien. Brynn kommt mir anders vor, als ich sie in Erinnerung habe. Härter, wütender. Ich mache ihr weiß Gott keinen Vorwurf daraus – sie hat allen Grund, wütend zu sein. Doch da ist noch etwas anderes. Irgendwas an der Art, wie sie ihre Serviette in kleine Fetzen gerissen und dann mit meiner weitergemacht hat. Sie hat immer wieder nervös über die Schulter geguckt und ab und zu den Kopf geneigt, als wenn ihr jemand ins Ohr flüstern würde. Ich denke darüber nach, unsere Grandma anzurufen, um zu erfahren, was sie darüber denkt, aber vielleicht reagiere ich auch nur über. Ich kann nicht behaupten, Brynn noch zu kennen. Ich habe sie seit fünf Jahren nicht gesehen, und Menschen verändern sich. Gott weiß, dass ich mich verändert habe. Ich werde schauen, wie sie sich morgen benimmt, wenn sie kommt, um Joshua und Claire kennenzulernen.
Ich weiß, dass ich es mit Brynn langsam angehen lassen muss, aber ich denke, dann wird alles wieder gut. Ein neuer Anfang, ein Neubeginn – das ist alles, was wir brauchen. Wir haben den Rest unseres Lebens, um wieder Freunde zu werden. Uns wie Schwestern zu lieben.
CLAIRE
Die fallenden Blätter, eine Mischung aus matten Gelb-, Rotund Brauntönen, werden im Licht der Straßenlampen von einer scharfen Brise herumgewirbelt. Es ist ungewöhnlich kalt für September. Auf den Straßen glitzert die Feuchtigkeit, und die schweren grauen Wolken kündigen weiteren Regen an. Claire bezweifelt, dass an diesem Abend noch Kunden in ihren Buchladen kommen werden. Auch wenn sie normalerweise bis einundzwanzig Uhr geöffnet hat, überlegt sie, heute eine Stunde eher zu schließen. Joshua spielt in der Kinderabteilung mit seinen Legosteinen. Er hat versprochen, sie sofort beiseitezuräumen, sobald ein Kunde den Laden betritt. Claire beobachtet Allison und Brynn, die die Köpfe zusammengesteckt haben und sich leise unterhalten, während Allison stückweise die Regale frei räumt und das Holz mit einem Öl einreibt, das den Laden mit einem angenehmen
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