Vermächtnis
beispielsweise die Theodizee, das Thema des Buches Hiob: Wenn es einen guten, allmächtigen Gott gibt, warum geschieht dann Böses in der Welt? Traditionelle Völker, die mit Begeisterung eine Stunde lang über die Erklärung für einen abgebrochenen Stock in der Erde diskutieren, werden es zweifellos nicht versäumen, die Frage zu erörtern, warum ein guter Mensch, der offensichtlich die Regeln der Gesellschaft beachtet hat, dennoch verletzt, besiegt oder getötet wurde. Hat er ein Tabu gebrochen, gibt es böse Geister, oder waren die Götter verärgert? Ebenso werden die Menschen immer wieder zu erklären versuchen, warum jemand, der vor einer Stunde noch geatmet und sich bewegt hat und warm war, jetzt kalt ist wie ein Stein, nicht mehr atmet und sich nicht mehr bewegt: Gibt es in dem Menschen einen Teil, eine Seele, die entwichen und auf einen Vogel übergegangen ist oder jetzt irgendwo anders lebt? Heute könnte man einwenden: Dabei handelt es sich nicht um das Streben nach Erklärungen, sondern um die Suche nach einem »Sinn«; die Wissenschaft liefert nur Erklärungen, auf der Suche nach Sinn hält man sich besser an die Religion, oder man erkennt an, dass unser Bedürfnis nach Sinn sinnlos ist. Aber alle Menschen früherer Zeiten und die meisten Menschen unserer Tage wünschen sich, dass ihre Frage nach dem »Sinn« beantwortet wird.
Kurz gesagt, könnte sich das, was wir heute Religion nennen, als Nebenprodukt der Fähigkeit unseres Gehirns entwickelt haben, mit immer raffinierteren Methoden kausale Erklärungen zu benennen und Voraussagen zu machen. Lange Zeit machte man keinen Unterschied zwischen Natürlichem und Übernatürlichem oder zwischen der Religion und den anderen Bestandteilen des Lebens. Was die Frage angeht, wann »Religion« im Laufe unserer Evolution entstand, so lautet meine Vermutung: Sie entwickelte sich ganz allmählich zusammen mit unserem immer komplizierteren Gehirn. Die Cromagnons nähten vor 15 000 Jahren bereits maßgeschneiderte Kleidung, erfanden neue Werkzeuge und schufen großartige, vielfarbige Abbildungen von Tieren und Menschen an den Höhlenwänden von Lascaux, Altamira und Chauvet, also in Kammern tief unter der Erde, wo man die Gemälde nur bei Kerzenlicht sehen konnte – Gemälde, die viele moderne Besucher mit religiöser Ehrfurcht erfüllen (Abb. 25 ) . Ob die Erregung von Ehrfurcht nun tatsächlich die Absicht der prähistorischen Maler war oder nicht, ihr Gehirn war sicher schon so modern, dass es Überzeugungen hegen konnte, die man als religiös bezeichnen muss. Und was unsere Neandertaler-Verwandten angeht, so spricht manches dafür, dass sie sich mit Ockerpigmenten bemalten und ihre Toten bestatteten – vielleicht. Offenbar kann man aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass unsere Vorfahren zumindest während der mehr als 60 000 -jährigen Geschichte des verhaltensmäßig modernen
Homo sapiens
religiöse Überzeugungen hatten, vielleicht aber auch schon viel früher.
Glaube an Übernatürliches
In praktisch allen Religionen gibt es einen Glauben an übernatürliche Dinge, die für die jeweilige Religion charakteristisch sind. Das heißt, die Anhänger einer Religion haben feste Überzeugungen, die mit unserem Erleben der Natur in Konflikt stehen, davon nicht bestätigt werden und für Menschen, die keine Anhänger der jeweiligen Religion sind, nicht plausibel erscheinen. Im Folgenden sind eine Reihe solcher Überzeugungen aufgelistet, man könnte aber noch unzählige weitere Beispiele hinzufügen:
Es gibt einen Affengott, der mit einem einzigen Purzelbaum Tausende von Kilometern zurücklegt. (Hinduismus)
Geister tun einem einen Gefallen, wenn man vier Tage ohne Nahrung und Wasser an einem einsamen Ort bleibt und sich an der linken Hand ein Fingergelenk abschneidet. (Crow-Indianer)
Eine Frau, die nicht von einem Mann befruchtet wurde, wurde schwanger und brachte einen Jungen zur Welt, dessen Körper nach seinem Tod an einen als Himmel bezeichneten Ort gebracht wurde. (Katholizismus)
Ein Schamane, der für seine Bemühungen bezahlt wird, sitzt in einem Haus bei gedämpftem Licht mit allen Erwachsenen des Dorfes zusammen, und alle schließen die Augen. Der Schamane taucht zum Boden des Ozeans hinab und besänftigt dort die Meeresgöttin, die Unheil gebracht hat. (Inuit)
Um festzustellen, ob jemand sich des Ehebruchs schuldig gemacht hat, füttert man einem Huhn mit Gewalt eine giftige Paste. Stirbt das Huhn nicht, ist die betreffende Person unschuldig.
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