Verneig dich vor dem Tod
Ihm war nicht klar, daß ihm nach unserem Recht keine solchen Vorrechte zufielen wie nach sächsischem Recht. Als er das begriff, zeigte er seine wahre böse Natur. Er hat mich nie geliebt. Seine Geisteskrankheit verstärkte sich. Es ist eine gerechte Strafe, daß er sich nun selbst das Leben genommen hat. Meine Befriedigung darüber ist nur ein kleiner Teil dessen, was man mir schuldet. Mein Leben war ein einziges Elend. Schließlich schrieb ich an meinen Vater und berichtete ihm, wie unglücklich ich war.«
Gadra hatte sich plötzlich wieder gesetzt. Er war blaßund verstört. Gélgeis sah den schockierten alten Mann ohne Mitleid an.
»Ich verlangte sehnlichst danach, daß mein Vater kommen und mich aus meiner Not erlösen würde. Während ich tatkräftige Hilfe brauchte, kam lediglich eine Botschaft über Bruder Pol zurück, und die bestand aus einem Vortrag über Pflicht, Gehorsam, das Recht und die Rituale der Gesetze. Das ist genau das, was er jetzt mit seinem dummen
troscud
verfolgt. Was nützt das alles? Ein Ritual, um die Wirklichkeit zu verschleiern. Das Ritual kennt kein Gefühl.
Jeden Tag betete ich darum, daß mein Vater in die Abtei geritten käme und mich wegholte aus dem Schmerz, zu dem mein Leben geworden war. Ja, ich hatte mich entschieden, mit Cild zu gehen. Doch mußte ich für immer unter einer falschen Entscheidung leiden? In meinem eigenen Land hätte ich mich von ihm gesetzlich scheiden lassen können. Ist das nicht so,
dálaigh
?«
Fidelma neigte den Kopf.
»Nach unserem Recht ist die Scheidung aus vielen Gründen erlaubt. Es gibt mehrere Anlässe zur Scheidung und elf Umstände, die jedem Partner eine Trennung ohne Strafe gestatten.«
Gélgeis lachte freudlos.
»Aber hier in diesem Land haben Frauen kein Recht auf Scheidung. Doch mein Vater redete mir immer noch von Gehorsam gegenüber Gesetz und Ritual. Jetzt kommt er her mit seinem Gesetz und seinem Ritual und hat kein Gefühl für mich.«
Vielleicht hörte Fidelma als einzige die einsame Klage eines verirrten Kindes aus den kalten Worten der jungen Frau heraus.
»Und dann bist du Aldhere begegnet?« fragte sie.
»Ja, ich traf Aldhere, und uns einte der gemeinsame Haß auf Cild. Ich ging mit ihm weg und blieb bei ihm in der Verkleidung einer mißhandelten Sklavin aus dem Frankenland, was meinen Schleier und meinen Akzent erklärte. Es gelang uns, die Leute zu überzeugen, Gélgeis wäre in Hob’s Mire umgekommen. Erst als wir vor kurzem von Wiglaf hörten, sein Vetter Botulf mache sich Sorgen, weil Cild immer irrer wurde, beschlossen wir, dem nachzuhelfen und das Biest leiden zu lassen.«
»Wußte Botulf, daß du nicht tot bist?«
Aldhere schaltete sich ein. »Wie ich schon sagte, war Botulf seit langem mein Freund. Er wußte, daß Gélgeis unglücklich war. Er wußte auch, daß sie bei mir ihr Glück gefunden und deswegen Cild verlassen hatte. Botulf kannte unser Geheimnis und bewahrte es bis zu seinem Tode.«
»Von Wiglaf erfuhr ich von den geheimen Gängen unter der Abtei«, fuhr Gélgeis fort, »und benutzte sie für meine Auftritte als Geist.«
»War es deren Zweck, Cild so weit in den Wahnsinn zu treiben, daß er sich das Leben nahm?« fragte Fidelma nach.
»Meine Absicht war es, mich an ihm zu rächen«, antwortete Gélgeis einfach.
»Er hegte doch sicher noch Liebe für dich? Er wäre nicht so erschüttert und verstört worden von der Erscheinung seiner toten Frau, wenn er nichts mehr für sie empfunden hätte«, fragte Eadulf zweifelnd.
Gélgeis lachte. Es klang keineswegs lustig.
»Er empfand nichts als Furcht und Schuld und glaubte in seinem Wahnsinn, daß die Geister aus der Unterwelt Rache an ihm nähmen.«
»Hat Botulf das gebilligt?« fragte Eadulf ungläubig.
Gélgeis schüttelte den Kopf. »Dein Freund Botulf war ein anständiger Mensch, was Aldhere dir bestätigen wird. Nein, er wußte nicht einmal etwas von meinem Plan, mich zu rächen. Doch er verriet mich nicht – nicht einmal an meinen Bruder Garb, als der mit diesem lächerlichen Plan eines
troscud
hier auftauchte.«
»Lächerlich? Wir sind hergekommen und haben uns für dich in Gefahr begeben, und du hast nicht einmal daran gedacht, uns, deine Familie, wissen zu lassen, daß du noch lebst!« tobte Garb und starrte seine Schwester zornig an.
Gélgeis schüttelte mit spöttischem Lächeln den Kopf.
»Meine Familie kümmerte sich nicht um mich, bis ich tot war, und dann auch nur, weil er« – damit wies sie auf ihren Vater – »sein Ritual
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