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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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keine Luft. Schlimmer noch als der
Tod, der kommen würde, war, daß sie alles um sich herum
bewußt erlebte, immer noch Farben und Umrisse sah. Sie
konnte nur nicht mehr verstehen, was die anderen sagten.
Die Schreie, die Ausrufe schienen von fern, wie aus einer
anderen Welt zu kommen. Doch davon abgesehen war alles
real, die Luft strömte nicht in ihre Lungen, ihre Muskeln
gehorchten ihr nicht, aber ihr Bewußtsein verließ sie nicht.
Sie spürte, wie jemand sie packte und auf den Rücken
drehte, doch jetzt hatte sie die Kontrolle über die Bewegungen
ihrer Augen verloren, die kreisten und Hunderte von
verschiedenen Bildern an ihr Gehirn sandten und das Gefühl
des Erstickens mit einem visuellen Chaos vermischten.
Ganz allmählich entfernten sich auch die Bilder, und als
die Todesqualen ihren Höhepunkt erreicht hatten, kam endlich
die Luft mit einem so fürchterlichen Rasseln herein, daß alle
im Saal vor Angst wie gelähmt waren.
Veronika würgte und übergab sich hemmungslos. Nachdem der lebensbedrohliche Moment vorbei war, begannen
ein paar Verrückte zu lachen, und sie fühlte sich erniedrigt,
verloren, außerstande zu reagieren.
Ein Krankenpfleger kam herbeigelaufen und gab ihr eine
Spritze in den Arm.
»Beruhigen Sie sich. Es ist vorbei.«
»Ich bin nicht gestorben!« begann sie zu schreien, indem
sie auf die anderen Patienten zuging und den Boden und die
Möbel mit ihrem Erbrochenen beschmutzte. »Ich bin immer
noch in dieser verdammten Anstalt, gezwungen, mit euch
zusammenzuleben! Muß jeden Tag und jede Nacht
tausend Tode sterben, und niemand hat Erbarmen mit mir!«
Sie wandte sich an den Krankenpfleger, riß ihm die
Spritze aus der Hand und warf sie in den Garten.
»Was wollen Sie? Warum spritzen Sie mir kein Gift, wo
Sie doch wissen, daß ich zum Tod verurteilt bin. Wo sind
Ihre Gefühle?«
Sie konnte sich nicht mehr beherrschen, setzte sich wieder
auf den Boden und begann heftig zu weinen, schrie,
schluchzte, während einige der Mitpatienten lachten und
sich über ihre schmutzige Kleidung lustig machten.
»Geben Sie ihr ein Beruhigungsmittel!« sagte eine Ärztin,
die hereingerannt kam. »Bringen Sie die Lage unter
Kontrolle!«
Der Krankenpfleger war jedoch wie gelähmt. Die Ärztin
lief wieder hinaus, kam mit zwei weiteren Krankenpflegern
und einer Spritze zurück. Die Männer packten das hysterische Wesen, das sich mitten im Aufenthaltsraum heftig
wehrte, während ihr die Ärztin das Beruhigungsmittel bis
zum letzten Tropfen in die Ader ihres beschmutzten Armes
spritzte.
lag im Sprechzimmer von Dr. Igor auf einem makellos
weißen Bett mit einem frischen Laken.
Er horchte ihr Herz ab. Sie tat so, als schliefe sie noch,
doch irgend etwas in oder an ihr mußte sich geändert haben, weil der Arzt plötzlich so redete, als wüßte er, daß sie
ihm zuhörte.
»Keine Angst«, sagte er. »Bei Ihrer Gesundheit werden
Sie hundert Jahre alt.«
Veronika öffnete die Augen. Jemand hatte ihre Kleider
gewechselt. War es Dr. Igor gewesen? Hatte er sie nackt gesehen? Ihr Kopf arbeitete noch nicht normal.
»Was haben Sie gesagt?«
»Ich habe gesagt, Sie sollen keine Angst haben.«
»Nein. Sie haben gesagt, ich würde hundert Jahre alt werden.«
Der Arzt ging zu seinem Schreibtisch.
»Sie haben gesagt, ich würde hundert Jahre alt werden«,
hakte Veronika nach.
»In der Medizin ist nichts endgültig«, wiegelte Dr. Igor
ab. »Alles ist möglich.«
»Wie geht es meinem Herzen?«
»Genau wie vorher.«
Dann brauchte sie nichts weiter. Die Ärzte sagen angesichts eines schwierigen Falles, >Sie werden hundert Jahre
alt<, oder >Das ist nichts Ernstes<, oder >Sie haben das Herz
und den Blutdruck eines Kindes< oder auch >Wir müssen die
Untersuchung wiederholen<. Als hätten sie Angst, die Patienten könnten ihnen die Praxis zertrümmern.
Sie versuchte aufzustehen, doch es ging nicht: Das Zimmer begann sich zu drehen.
»Bleiben Sie noch einen Augenblick liegen, bis Sie sich
besser fühlen. Sie stören mich nicht.«
Wie gut, dachte Veronika. Und wenn es nun doch nicht
so wäre?
    Als erfahrener Arzt schwieg Dr. Igor eine geraume Weile
und tat so, als läse er einige Papiere, die auf seinem Schreibtisch lagen. Wenn wir mit jemandem zusammen sind und
die andere Person nichts sagt, wird das allmählich irritierend, angespannt, unerträglich. Dr. Igor hoffte, das Mädchen würde zu sprechen beginnen, damit er Angaben für
seine These über die Verrücktheit und die Behandlungsmethode sammeln

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