Veronica beschließt zu sterben
Überraschung verflogen war, wurden
die Leute ärgerlich: Wie konnte sich dieser Mann, nachdem
sie vier Stunden auf ihn gewartet hatten, jetzt so aufführen?
Empörtes Gemurmel wurde laut, doch der Sufi-Meister
scherte sich nicht darum. Er erklärte weiterhin laut brüllend,
wie sexy das junge Mädchen doch sei, und lud sie ein, ihn
nach Frankreich zu begleiten.«
>Was für ein Meister<, dachte Veronika. >Wie gut, daß ich
nie an so etwas geglaubt habe.<
»Nachdem er die Leute, die sich empörten, beschimpft
hatte, versuchte Nasrudin aufzustehen, doch er fiel schwer
zu Boden. Entsetzt beschlossen die Leute wegzugehen und
meinten, daß dies nichts weiter als Scharlatanerei sei und sie
dieses erniedrigende Schauspiel den Zeitungen berichten
wollten.
Neun Leute blieben im Saal. Und kaum hatte die Gruppe
der Empörten den Saal verlassen, da erhob sich Nasrudin.
Er war nüchtern, seine Augen verströmten Licht, und ihn
umgab eine Aura von Würde und Weisheit. >Ihr, die noch
hier seid, seid die, die mich hören sollt<, sagte er. >Ihr habt
die zwei härtesten Prüfungen auf dem spirituellen Weg bestanden: die Geduld, auf den richtigen Augenblick zu warten,
und den Mut, euch nicht von dem enttäuschen zu lassen, was
ihr vorgefunden habt. Euer Lehrer werde ich sein.<
Und Nasrudin brachte ihnen einige der Sufi-Techniken
bei.«
Der Mann machte eine Pause und zog eine fremdartige
Flöte aus der Tasche.
»Wir wollen jetzt etwas ausruhen, und dann machen wir
unsere Meditation.«
Die Gruppe erhob sich. Veronika wußte nicht, was sie
machen sollte.
»Steh auch auf!« sagte Mari, die sie bei der Hand nahm.
»Wir haben fünf Minuten Pause.«
»Ich gehe lieber, ich möchte nicht stören.«
Mari zog sie in eine Ecke.
»Hast du denn überhaupt nichts gelernt, nicht einmal angesichts der Nähe des Todes ? Hör auf, ständig zu glauben,
daß du jemanden störst! Wenn die Leute sich gestört fühlen,
werden sie es schon sagen! Und wenn sie nicht den Mut
dazu haben, ist das ihr Problem!«
»An dem Tag, als ich mich euch genähert habe, tat ich
etwas, was ich noch nie zuvor gewagt hatte.«
»Und dann hast du dich von einem einfachen Verrücktenscherz abschrecken lassen! Warum bist du nicht einfach
weitergegangen? Was hattest du zu verlieren?«
»Meine Würde. Dort zu sein, wo ich nicht willkommen
war.«
»Was ist denn schon Würde? Das bedeutet doch nur, daß
alle finden, daß du brav, wohlerzogen und voller Nächstenliebe bist? Respektiere die Natur, schau dir mehr Tierfilme
an und achte darauf, wie sie um ihren Raum kämpfen. Wir
haben uns alle über diesen Klaps gefreut, den du dem einen
von uns gegeben hast.«
Veronika blieb keine Zeit mehr, um um irgendwelchen
Raum zu kämpfen. Sie wechselte das Thema und fragte, wer
dieser Mann sei.
»Du besserst dich«, lachte Mari. »Du fragst, ohne zu
fürchten, man könnte dich für indiskret halten. Dieser Mann
ist ein Sufi-Meister.«
»Was heißt >Sufi«
»Wolle.«
Veronika verstand das nicht. Wolle?
»Der Sufismus ist eine spirituelle Tradition der Derwische, bei der die Meister nicht darauf aus sind, Weisheit
zu zeigen, und die Schüler kreiselnd tanzen und in Trance
fallen.«
»Und wozu ist das gut?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher. Doch unsere Gruppe hat
beschlossen, alle verbotenen Erfahrungen zu machen. Mein
ganzes Leben lang hat uns die Regierung erzogen und uns
erklärt, daß die spirituelle Suche nur darin besteht, den
Menschen von seinen realen Problemen zu entfernen. Jetzt
antworte mir: Findest du nicht, daß das Leben zu verstehen
ein reales Problem ist?«
Ja, das war ein reales Problem. Außerdem war sie sich
nicht mehr sicher, was das Wort >Realität< bedeutete.
Der Mann im Anzug, der laut Mari ein Sufi-Meister war,
bat alle, sich im Kreis hinzusetzen. Aus einer der Vasen im
Speisesaal nahm er alle Blumen bis auf eine rote Rose heraus
und stellte die Vase mit der einzelnen Blume in die Mitte des
Kreises.
»Schau, was wir geschafft haben«, sagte Veronika. »Irgendwann hat ein Verrückter gemeint, daß es möglich sei,
Blumen im Winter zu züchten, und heute haben wir in ganz
Europa das ganze Jahr über Rosen. Glaubst du, daß ein SufiMeister bei all seinem Wissen fähig ist, so etwas zu tun?«
Mari schien ihre Gedanken zu erraten.
»Heb dir die Kritik für später auf.«
»Ich werd's versuchen. Weil mir nur noch die Gegenwart
bleibt, die wie gesagt, kurz ist.«
»Sie ist alles, was wir haben, und sie ist immer sehr kurz,
obwohl einige meinen,
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