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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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Bruderschaft. Veronika
hatte über Müdigkeit geklagt und sich zurückgezogen. Das
Beruhigungsmittel, das sie morgens genommen hatte, war
schließlich stark genug gewesen, um einen Stier
einzuschläfern, und trotzdem hatte sie so viel Kraft gehabt, so
lange wach zu bleiben.
    »So ist nun mal die Jugend, sie stellt ihre eigenen Grenzen
auf und fragt nicht danach, ob der Körper das mitmacht.
Und der Körper macht immer mit.«
    Mari war nicht müde: Sie hatte lange geschlafen und dann
einen Spaziergang in Ljubljana gemacht. Dr. Igor verlangte
von den Mitgliedern der Bruderschaft, daß sie einmal am
Tag Villete verließen. Sie war ins Kino gegangen und war
über einem todlangweiligen Film über eine verkrachte Ehe
in ihrem Sessel eingeschlafen. Gab es denn wirklich kein
anderes Thema? Warum mußten bloß immer die gleichen
Geschichten erzählt werden - Ehemann mit Geliebter, Ehemann mit Frau und krankem Kind, Ehemann, Geliebte und
krankes Kind? Es gab doch wichtigere Dinge auf der Welt
zu erzählen.
    Die Unterhaltung im Speisesaal dauerte nicht lange. Die
Meditation hatte die Gruppe entspannt, und alle beschlossen,
in die Schlafsäle zu gehen. Nur Mari wollte auf einen
Spaziergang hinaus in den Garten. Auf dem Weg kam sie
am Aufenthaltsraum vorbei und sah, daß das Mädchen doch
nicht schlafen gegangen war: Es spielte für Eduard, den Schizophrenen, der wahrscheinlich die ganze Zeit neben dem
Klavier gewartet hatte. Die Verrückten ließen wie die Kinder
erst dann locker, wenn sie ihren Wunsch erfüllt sahen.
    Die Luft war eiskalt. Mari ging wieder hinein, holte sich etwas
Warmes zum Überziehen und trat dann wieder hinaus.
Draußen, fern von den Augen der anderen, steckte sie sich
eine Zigarette an. Sie rauchte ruhig und ohne Schuldgefühl,
während sie über das Mädchen, über die Klaviermusik, die
sie hörte, und das Leben außerhalb der Mauern von Villete
nachdachte, das sich für alle immer schwieriger gestaltete.
    Mari fand, daß diese Schwierigkeit nicht am Chaos oder
an fehlender Organisation oder Anarchie lag, sondern an
dem Zuviel an Ordnung. Die Gesellschaft hatte immer mehr
Regeln und Gesetze, die den Regeln widersprachen, und
neue Regeln, um Gesetzen zu widersprechen. Das verschreckte die Menschen, und sie taten keinen Schritt mehr
außerhalb der unsichtbaren Regeln, die das Leben aller
lenkten.
    Mari verstand etwas davon. Sie hatte vierzig Jahre ihres
Lebens als Anwältin gearbeitet, bis ihre Krankheit sie nach
Villete gebracht hatte. Gleich zu Anfang ihrer Karriere hatte
sie schnell ihre naive Sicht von Recht und Gerechtigkeit
begriffen, daß die Gesetze nicht geschaffen worden waren, um
Probleme zu lösen, sondern um jeden Streit endlos in die
Länge zu ziehen.
    Schade, daß Allah, Jehova, Gott - egal, welchen Namen
man ihm auch gab, nicht in der heutigen Welt lebte. Denn
wäre das so, dann wären wir noch immer im Paradies und Er
noch immer damit beschäftigt, Berufung einzulegen,
Rechtshilfeersuchen, gerichtliche Unterlassungsbefehle und
vorläufige Maßnahmen zu formulieren und in unzähligen
Verhandlungen seine Absicht darzulegen, Adam und Eva
aus dem Paradies zu vertreiben, nur weil sie ein willkürliches Gesetz ohne juristisches Fundament übertreten hatten,
das nämlich, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen.
    Wenn Er nicht wollte, daß dies geschah, warum hatte Er
dann diesen Baum mitten in den Garten gepflanzt und nicht
außerhalb der Mauern des Paradieses? Als Verteidigerin des
Paares hätte Mari Gott bestimmt wegen verwaltungstechnischer Auslassung verklagt, weil er den Baum an den falschen Ort gepflanzt, ihn nicht mit Schildern versehen und
eingezäunt und überhaupt nichts für die Sicherheit getan
hatte, wodurch alle gefährdet wurden.
    Mari könnte ihn auch wegen Anstiftung zum Verbrechen
anklagen: Er hatte sogar Adams und Evas Aufmerksamkeit
auf den Ort gelenkt, an dem der Baum stand. Hätte er nichts
gesagt, würden Generationen um Generationen über die Erde
gehen, ohne daß sich jemand für die verbotene Frucht
interessiert hätte, denn wahrscheinlich stand der Baum in
einem Hain unter vielen gleichen Bäumen und war somit
nichts Besonderes.
    Doch Gott hatte das nicht getan. Im Gegenteil, er schrieb
das Gesetz und brachte es fertig, jemanden davon zu überzeugen, es zu übertreten, nur damit er die Strafe erfinden
konnte. Er wußte, daß Adam und Eva am Ende von so viel
Vollkommenheit gelangweilt sein und früher oder später
Seine Geduld auf

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