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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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daß sie eine Vergangenheit besitzen, in
der sie Dinge anhäufen, und eine Zukunft, in der sie noch
mehr anhäufen werden. Doch da wir gerade vom gegenwärtigen Augenblick reden - hast du schon häufig masturbiert?«
Obwohl das Beruhigungsmittel immer noch wirkte, erinnerte sich Veronika an den ersten Satz, den sie in Villete
gehört hatte.
»Als ich in Villete eingeliefert wurde und noch an Beatmungsschläuche angeschlossen war, habe ich deutlich jemanden fragen gehört, ob ich masturbiert werden wolle.
Was sollte das? Warum denkt ihr hier an so etwas?«
»Hier drinnen und dort draußen. Nur, in unserem Fall
müssen wir es nicht verbergen.«
»Hast etwa du mich danach gefragt?«
»Nein. Aber ich finde, du solltest herausfinden, bis wohin
deine Lust gehen kann. Nächstes Mal wirst du mit etwas
Geduld deinen Partner dahin bringen, anstatt zu warten, daß
er dich dahin bringt. Auch wenn du nur noch zwei Tage zu
leben hast, finde ich, daß du diese Welt nicht verlassen
solltest, ohne deine Lust ganz ausgelebt zu haben.«
»Dafür kommt nur ein Schizophrener in Frage, der jetzt
darauf wartet, mich Klavierspielen zu hören.«
»Jedenfalls sieht er gut aus.«
Der Mann im Anzug bat um Stille und unterbrach so das
Gespräch. Er wies sie an, sich auf die Rose zu konzentrieren,
ihren Verstand leer werden zu lassen.
    »Die Gedanken werden zurückkommen, doch versucht dies
zu verhindern. Ihr habt zwei Alternativen: Euren Verstand
zu beherrschen oder von ihm beherrscht zu werden. Die
zweite Alternative habt ihr bereits gelebt, habt euch von
Ängsten, Neurosen, Unsicherheit mitreißen lassen, denn der
Mensch hat diese Tendenz zur Selbstzerstörung.
    Verwechselt Verrücktheit nicht mit dem Verlust der Kontrolle. Vergeßt nicht, in der Sufi-Tradition wird der oberste
Meister, Nasrudin, von allen >der Verrückte< genannt. Und
gerade weil man ihn in seiner Stadt für geisteskrank hält,
kann Nasrudin alles sagen, was er denkt, und tun, wonach
ihm ist. So war es früher, im Mittelalter, mit den Hofnarren.
Sie konnten den König auf alle Gefahren hinweisen, die ihm
die Minister aus Angst, ihre Stellung zu verlieren, nicht zu
sagen wagten.
    So müßt auch ihr sein: Bleibt verrückt, doch verhaltet
euch so wie normale Menschen. Geht das Risiko ein, anders zu
sein, doch lernt dies zu tun, ohne die Aufmerksamkeit auf
euch zu lenken. Konzentriert euch auf diese Blume und laßt
zu, daß euer wahres Ich sich manifestiert.«
    »Was ist das wahre Ich?« unterbrach ihn Veronika. Vielleicht wußten die anderen es ja alle, doch das war gleichgültig. Sie sollte sich weniger darum kümmern, ob sie die
anderen störte.
    Der Mann schien über die Unterbrechung überrascht zu
sein, doch er antwortete:
»Das ist das, was du bist, und nicht das, was die anderen
aus dir gemacht haben.«
Veronika beschloß, die Übung zu machen, und konzentrierte sich ganz darauf herauszufinden, wer sie war. Während dieser Tage in Villete hatte sie Dinge gefühlt, die sie
vorher noch nie so intensiv erlebt hatte - Haß, Liebe, den
Wunsch zu leben, Angst, Neugier. Vielleicht hatte Mari ja
recht. Kannte sie den Orgasmus wirklich? Oder war sie
immer nur dahin gelangt, wohin die Männer sie bringen
wollten?
    Der Mann im Anzug begann die Flöte zu spielen. Ganz
allmählich beruhigte die Musik ihre Seele, und es gelang
ihr, sich auf die Rose zu konzentrieren. Es mochte die Wirkung des Beruhigungsmittels sein, doch Tatsache war, daß
sie sich, seit sie das Sprechzimmer von Dr. Igor verlassen
hatte, sehr wohl fühlte.
    Sie wußte, daß sie bald sterben würde. Doch warum
sollte sie sich fürchten? Das würde nicht weiterhelfen und
auch nicht den tödlichen Herzanfall verhindern können.
Das beste war, diese Tage oder Stunden, die ihr noch blieben, zu nutzen und zu tun, was sie zuvor noch nie getan
hatte.
    Die Musik war sanft, und das gedämpfte Licht im Speisesaal schuf eine beinahe religiöse Atmosphäre. Religion:
Warum versuchte sie nicht, ganz in sich einzutauchen und
zu sehen, was von ihrem Glauben noch übrig war?
    Weil die Musik sie auf eine andere Seite führte: den Kopf
leer werden lassen, nicht mehr über alles nachdenken und
nur SEIN: Veronika gab sich ganz hin, betrachtete die
Rose, sah, wer sie war, es gefiel ihr, und sie bedauerte, so
überstürzt gehandelt zu haben.
Als die Meditation vorüber und der Sufi-Meister gegangen
war, blieb Mari noch eine Weile im Speisesaal und unterhielt
sich mit den anderen Mitgliedern der

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