Veronica beschließt zu sterben
unmöglich war. Einige fragten sich:
>Und wenn das nun mir passieren würde? Ich kann leben,
aber nutze ich diese Chance überhaupt?<
Einige quälten sich nicht mit dieser Frage, sie hatten
schon lange aufgegeben und gehörten in eine Welt, in der es
weder das Leben noch den Tod gab, noch Zeit und Raum.
Andere hingegen waren gezwungen, darüber nachzudenken.
Und Mari war eine von ihnen.
Veronika hörte einen Augenblick lang auf zu spielen und
sah Mari dort draußen stehen, die nur mit einer leichten
Jacke bekleidet der nächtlichen Kälte trotzte. Wollte sie
sterben?
>Nein. Ich war diejenige, die sterben wollte.< Sie wandte sich
wieder dem Klavier zu. In ihren letzten Lebenstagen machte
sie ihren Traum wahr: dann mit Herz und Seele spielen, wann
sie es wollte und so lange sie wollte. Es war unwichtig, daß ihr
Publikum nur aus einem schizophrenen Jungen bestand. Er
schien die Musik zu verstehen. Und das zählte.
Mari hatte sich nie das Leben nehmen wollen. Ganz im
Gegenteil, vor fünf Jahren hatte sie in dem Kino, in dem sie
heute gewesen war, voller Entsetzen einen Film über das
Elend in El Salvador gesehen und gedacht, wie wichtig es
ihr war, zu leben. Damals waren ihre Kinder bereits erwachsen und beruflich selbständig gewesen, und sie hatte
beschlossen, den mühsamen, öden Anwaltsberuf an den
Nagel zu hängen und den Rest ihrer Tage einer humanitären
Organisation zu widmen. Das Gerücht, daß es einen
Bürgerkrieg im Land geben würde, wurde immer lauter,
doch Mari glaubte nicht daran. Es war unmöglich, daß die
Europäische Gemeinschaft am Ende des Jahrhunderts einen
Krieg vor ihren Toren zulassen würde.
Am anderen Ende der Welt war allerdings die Auswahl
an Tragödien groß. Und eine davon war El Salvador mit den
hungernden Kindern, die auf der Straße leben mußten und
sich nur mit Prostitution durchbringen konnten.
»Grauenhaft«, hatte sie zu ihrem Mann gesagt, der neben
ihr saß.
Er nickte.
Mari hatte den Entschluß schon eine geraume Weile vor
sich her geschoben. Vielleicht war jetzt der Augenblick gekommen, mit ihm zu reden. Sie hatten alles im Leben erreicht, was man sich wünschen konnte: ein Haus, Arbeit,
gutgeratene Kinder, einen bescheidenen Wohlstand, und sie
konnten ihren Hobbies und kulturellen Interessen nach-
gehen. Warum sollte sie nicht jetzt etwas für den Nächsten
tun? Mari hatte Kontakte zum Roten Kreuz, wußte, daß
überall auf der Welt dringend Freiwillige gesucht wurden.
Sie hatte die Bürokratie und die Prozesse satt, mit denen
sie den Leuten letztlich doch nicht weiterzuhelfen vermochte, die in Probleme hineingezogen wurden, für die sie
nichts konnten. Für das Rote Kreuz zu arbeiten bedeutete
hingegen, sofort sichtbare Ergebnisse zu bewirken.
Sie beschloß, ihren Mann nach dem Kino in ein Cafe einzuladen und dieses Vorhaben mit ihm zu besprechen.
Auf der Leinwand gab ein gelangweilter Regierungsbeamter El Salvadors eine lahme Entschuldigung für eine
neuerliche Ungerechtigkeit ab, und plötzlich fühlte Mari,
wie ihr Herz schneller schlug. Sie sagte sich, daß das nichts
weiter sei. Vielleicht lag es an der verbrauchten Luft im
Kino, die ihr das Gefühl gab zu ersticken. Wenn es so weiterging, wollte sie hinaus ins Foyer gehen und durchatmen.
Doch dann überstürzten sich die Ereignisse: Das Herz
schlug immer schneller, ihr brach kalter Schweiß aus.
Sie erschrak, versuchte sich auf den Film zu konzentrieren, um ihrer Angst Herr zu werden. Doch sie konnte dem
Geschehen auf der Leinwand schon nicht mehr folgen.
Während Mari in eine vollkommen andere Realität übergetreten war, wo all dies fremd, vollkommen deplaziert war,
einer Welt angehörte, in der sie nie zuvor gewesen war, liefen
die Bilder immer weiter.
»Mir ist schlecht«, sagte sie zu ihrem Mann.
Sie hatte dieses Eingeständnis, daß etwas mit ihr nicht in
Ordnung war, solange hinausgeschoben wie möglich.
»Laß uns hinausgehen«, schlug er vor.
Als er die Hand seiner Frau ergriff, um ihr beim Aufstehen
behilflich zu sein, bemerkte er, daß sie eiskalt war.
»Ich werde es nicht mehr bis nach draußen schaffen. Sag
mir bitte, was los ist.«
Der Ehemann erschrak. Maris Gesicht war schweißbedeckt, ihre Augen hatten einen merkwürdigen Glanz.
»Sei ganz ruhig. Ich werde hinausgehen und einen Arzt
holen.«
Sie war verzweifelt. Die Worte machten einen Sinn, doch
alles andere - das Kino, das Halbdunkel, die Leute, die nebeneinander saßen und auf die helle Leinwand blickten dies
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