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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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wusch ihr Gesicht,
und das Gefühl des Fremdseins nahm ab, doch die Angst
blieb.
>Sie vergeht wieder<, sagte sie sich, >wie gestern auch.<
Gestern hatte es etwa eine halbe Stunde gedauert, erinnerte sie sich. Sie schloß sich in einer der Toiletten ein,
setzte sich auf die Klobrille und legte den Kopf auf die Knie.
Doch so hörte sie ihr Herz nur noch lauter pochen, und Mari
richtete sich sofort wieder auf.
>Es wird vergehen.<
Sie blieb sitzen im Gefühl, sich selbst nicht mehr zu kennen, endgültig verloren zu sein. Sie hörte Schritte von Leuten,
die den Waschraum betraten und wieder verließen, hörte,
wie Wasserhähne auf- und zugedreht wurden, nutzlose
Gespräche über banale Dinge. Mehrmals versuchte jemand,
die Toilette, in der sie war, zu öffnen, und dann murmelte sie
etwas, und die betreffende Person ging wieder. Die
Wasserspülung rauschte wie eine Naturgewalt, imstande,
das ganze Gebäude wegzuspülen und alle Menschen mit
sich in die Hölle zu reißen.
Doch wie vorausgesehen legte sich die Angst, und ihr
Herz schlug wieder normal. Wie gut, daß ihre Sekretärin so
inkompetent war und ihre Abwesenheit nicht bemerkte,
denn sonst wäre längst das gesamte Büro im Waschraum
aufmarschiert.
Als sie sich wieder im Griff hatte, öffnete Mari die Tür,
wusch sich noch einmal ausgiebig das Gesicht und ging in
ihr Büro zurück.
»Sie sind ja ganz ungeschminkt«, sagte eine Praktikantin.
»Soll ich Ihnen mein Make-up leihen?«
Mari machte sich nicht die Mühe zu antworten. Sie trat
ins Büro, nahm ihre Handtasche, ihre persönlichen Dinge
und sagte der Sekretärin, sie werde den Rest des Tages zu
Hause verbringen.
»Sie haben aber zwei Termine«, wandte die Sekretärin
ein.
»Wer hier Anweisungen gibt, bin ich, nicht Sie. Und
meine Anweisung lautet: Sagen Sie die Termine ab!«
Die Sekretärin sah der Frau nach, mit der sie seit fast drei
Jahren zusammenarbeitete und die sie noch nie so heruntergeputzt hatte. Es mußte etwas Ernsthaftes mit ihr los
sein: Vielleicht hatte ihr ja gerade jemand gesagt, daß sich
ihr Mann zu Hause mit einer Geliebten vergnügte, und sie
wollte sie in flagranti ertappen.
>Sie ist eine gute Anwältin, sie weiß sich zu helfen<, sagte
sich das Mädchen. >Morgen wird sie sich sicher entschuldigen.<
Es gab kein »morgen«. In jener Nacht sprach Mari lange
mit ihrem Mann. Sie beschrieb ihm die Symptome. Sie kamen
gemeinsam zum Schluß, daß das Herzrasen, der kalte
Schweiß, das Gefühl von Fremdheit, die Ohnmacht, der
Verlust der Kontrolle in einem Wort zusammengefaßt werden
konnten: Angst.
Mann und Frau überlegten gemeinsam, was wohl passiert
sein könnte. Er dachte an einen Gehirntumor, sprach es
aber nicht aus. Sie hatte schlimme Vorahnungen, sprach sie
aber ebenfalls nicht aus. Gemeinsam versuchten sie, sich wie
vernünftige reife Menschen zu unterhalten.
»Vielleicht solltest du dich mal untersuchen lassen.«
Mari stimmte dem Vorschlag zu, unter der Bedingung,
daß niemand, nicht einmal ihre Kinder, etwas davon erfuhren.
Am nächsten Tag bat sie um einen einmonatigen unbezahlten Urlaub, der ihr auch gewährt wurde. Der Mann
erwog, mit ihr nach Österreich zu fahren, wo die großen
Spezialisten für Gehirnkrankheiten praktizierten, doch sie
weigerte sich, das Haus zu verlassen. Die Attacken kamen
jetzt häufiger und dauerten länger.
Unter großen Mühen und mit Hilfe von Beruhigungsmitteln fuhren sie in ein Krankenhaus in Ljubljana, und
Mari unterzog sich einer Reihe von Untersuchungen. Es
wurde nichts Auffälliges gefunden, nicht einmal ein Aneurysma, so daß Mari dem Rest ihres Lebens getrost entgegensehen konnte.
Doch die Panikattacken kamen immer wieder. Während
der Mann einkaufte und kochte, machte Mari den täglichen,
notwendigen Hausputz, um sich abzulenken. Sie begann
alle Bücher über Psychiatrie zu lesen, deren sie habhaft werden
konnte, hörte aber schnell wieder damit auf, weil sie sich in
jeder dort beschriebenen Krankheit wiederfand.
Das schlimmste war, daß sie sich zwar an die Attacken
gewöhnte, diese aber weiterhin ein Gefühl tiefer Angst, von
Fremdsein und Verlust der Selbstkontrolle in ihr auslösten.
Hinzu kam, daß sie sich wegen ihres Mannes Vorwürfe zu
machen begann, der nun neben seinem Beruf auch noch (bis
aufs Putzen, das sie weiterhin übernahm) die Hausarbeit erledigen mußte.
Als die Zeit verging und keine Besserung eintrat, packte
Mari eine ungeheure Wut, die sie an ihrer Familie abreagierte. Wegen nichts und

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