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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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meiner Großmutter
den Fuß auf die Schlange gesetzt hatte, dann bedeutete das,
daß die Liebe zwei Gesichter hat.«
»Ich verstehe, was du damit sagen willst«, sagte Eduard.
»Ich habe den Elektroschock extra herbeigeführt, weil du
mich verwirrst. Ich weiß nicht, was ich fühle, und Liebe hat
mich schon einmal zerstört.«
»Hab keine Angst. Heute habe ich Dr. Igor gebeten, mich
hier heraus zu lassen, damit ich mir einen Platz aussuche, an
dem ich meine Augen für immer schließe. Doch als ich sah,
wie dich die Krankenpfleger packten, begriff ich, was ich
sehen wollte, wenn ich diese Welt verließ: dein Gesicht. Und
ich beschloß, nicht wegzugehen.
Als du wegen des Elektroschocks schliefst, hatte ich
einen weiteren Herzanfall und dachte, meine Stunde sei
gekommen. Ich sah dein Gesicht an, versuchte deine Geschichte zu erraten und bereitete mich darauf vor, glücklich
zu sterben. Doch der Tod kam nicht - mein Herz hielt
wieder einmal stand, wahrscheinlich, weil ich so jung bin.«
Er senkte den Kopf.
»Schäme dich nicht, weil du geliebt wirst. Ich will nichts
von dir. Nur, daß du mir erlaubst, dich zu lieben und, falls
meine Kräfte es zulassen, noch eine Nacht für dich Klavier
zu spielen.
Um eines möchte ich dich dennoch bitten: Wenn du jemanden sagen hörst, daß ich im Sterben liege, komm in die
Krankenstation. Erfülle mir nur diesen einen Wunsch.«
Eduard schwieg eine geraume Weile, und Veronika
dachte, er sei in seine Welt zurückgekehrt und würde sie so
schnell nicht wieder verlassen. Doch er blickte auf die Berge
jenseits der Mauern von Villete und sagte dann:
»Wenn du hinaus willst, bringe ich dich hinaus. Lass
mich nur unsere Mäntel und etwas Geld holen. Dann gehen
wir beide zusammen weg.«
»Es wird nicht lange dauern, Eduard. Das weißt du.«
Eduard antwortete nicht. Er ging ins Haus und kam kurz
darauf mit den Mänteln zurück.
»Es wird eine Ewigkeit lang dauern, Veronika. Länger als
alle die gleichförmigen Tage und Nächte, die ich hier verbracht habe, während ich versuchte, die Visionen des Paradieses für immer zu vergessen. Ich hatte sie fast vergessen,
aber mir scheint, sie kehren zurück.
Laß uns gehen, Verrückte machen verrückte Dinge.«
An jenem Abend bemerkten die Insassen, als sie sich zum
Essen an den Tisch setzten, daß vier von ihnen fehlten.
    Zedka, von der alle wußten, daß sie nach einer langen Behandlung entlassen worden war. Mari, die wahrscheinlich
ins Kino gegangen war, was sie häufiger machte. Eduard,
der sich möglicherweise noch nicht von seinem Elektroschock erholt hatte - bei diesem Gedanken bekamen alle Insassen Angst und begannen schweigend zu essen.
    Aber es fehlte auch noch die junge Frau mit den grünen
Augen und dem braunen Haar. Die, von der alle wußten,
daß sie das Ende der Woche nicht mehr erleben würde.
    Niemand in Villete sprach offen über den Tod. Doch Abwesenheit wurde bemerkt, auch wenn alle versuchten, sich
so zu verhalten, als sei nichts geschehen.
    Ein Gerücht ging von Tisch zu Tisch. Einige weinten,
weil sie allen so quicklebendig vorgekommen war und jetzt
womöglich in der kleinen Leichenhalle hinter dem Sanatorium lag. Selbst am Tage, wenn alles hell war, wagten sich
nur die Mutigsten dorthin. Drei Marmortische standen dort,
und nicht selten lag dort auch ein mit einem Laken bedeckter
Leichnam.
    Alle wußten, daß Veronika an diesem Abend dort war.
Die echten Geisteskranken hatten längst vergessen, daß in
dieser Woche ein neuer Gast im Sanatorium war, der den
Schlaf so mancher mit Klavierspiel gestört hatte. Einige wenige
waren irgendwie traurig, als die Nachricht die Runde
machte, vor allem die Krankenschwestern der Intensivstation. Doch die Angestellten sollten ja keine zu engen Beziehungen mit den Kranken aufbauen, denn die einen verließen
die Anstalt, andere starben, und den meisten ging es ständig
schlechter. Die Krankenschwestern und Pfleger waren etwas
länger traurig, doch dann ging auch das vorbei.
    Der größte Teil der Insassen, die davon erfahren hatten,
war entsetzt und traurig, aber auch erleichtert. Denn der
Engel des Todes war wieder einmal durch Villete gegangen
und hatte sie verschont.
ALS die >Bruderschaft< sich nach dem Abendessen versammelte, brachte ein Mitglied die Neuigkeit mit: Mari war
nicht im Kino, sie war endgültig weggegangen und hatte
ihm eine Nachricht hinterlassen.
    Niemand schien sich darüber zu wundern: Sie war immer
anders gewesen, zu verrückt, unfähig, sich

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