Verplant verliebt
um Himmels Willen machte sie hier? Sie riskierte ihr Leben in einer dämlichen Nacht- und Nebelaktion. Warum hatte sie sich darauf nur eingelassen?
„Ist schon gut, nichts passiert. Ich gehe vor und bringe dich heil nach unten.“ Karlo wippte zur Probe auf dem nächstgelegenen Ast, bevor er seine Arme nach ihr ausstreckte. Als Marie zögerte, trat er noch einmal einen Schritt zurück, schlang seinen Arm unter ihre Achseln, zog sie fest an sich und begann, sie Ast für Ast nach unten zu dirigieren. Marie hatte das Gefühl, die Himmelsleiter würde nie enden. Sie fühlte sich an die Geschichte der Königin erinnert: „Wer hinaufgeklettert war, der kam oft nicht wieder.“ Marie klammerte sich noch stärker an Karlo.
„Hey, gleich haben wir es geschafft“, beruhigte er sie wieder.
Wenige Momente später spürte Marie festen Boden unter den Füßen. Sie atmete tief durch und eine Woge der Erleichterung erfasste sie. Karlo löste seine Umarmung, doch Marie blieb bei ihm stehen, das Gesicht nah an seinem Hals. Sie fühlte sich bei ihm sicher, inmitten der Dunkelheit beschützt. Sie wollte Karlo in diesem Moment mehr denn je. Sie wollte, dass er sie berührte, dass er sie erneut in seine Arme zog, dass er sie küsste. Sie hob den Kopf, so dass ihre Lippen nur noch wenige Zentimeter von seinen entfernt waren. Doch Karlo kam nicht näher. Stattdessen lächelte er sie zärtlich an, strich ihr kurz durch die Haare und griff nach ihrer Hand.
„Ich glaube, wir können direkt in die Pension gehen. Die Königin und ihr Mann schlafen sicher schon. Kennst du den Weg von hier aus?“, fragte er in die Stille.
Marie nickte und ging auf dem kleinen Trampelpfad voran. Warum küsste er sie nicht?
„Die Pension deiner Eltern ist wirklich sehr nett eingerichtet. Ich mag die Rosensträucher, die neben dem Eingang nach oben ranken ...“, plapperte Karlo vor sich hin. „Wenn ich mich mal mit einer Familie niederlasse, dann stelle ich mir unser Haus genau so vor. Ich bevorzuge ja eher Altbauten mit Charme als Neubauten.“
Marie schluckte. Sie hatte Karlo nicht zu den Männern gezählt, deren Sätze mit „Wenn ich mich mal mit einer Familie niederlasse“ anfangen. „Warum wohnst du dann in einem neuen Loft?“, fragte sie.
„Ich kannte ja niemanden, als ich nach Stuttgart kam. Da fand ich die Idee, mit Gregor in eine Männer-WG zu ziehen, ganz verlockend. Wir hatten das im Studium irgendwie verpasst und dann bin ich ja früh mit ...“, verstummte Karlo mitten im Satz und drückte Maries Hand. „Aber auf lange Sicht ist das Leben in einer Männer-WG nichts für mich.“
Marie hätte gerne gewusst, wie der unvollendete Satz zu Ende gegangen wäre. Mit wem war er dann zusammengezogen? Sie traute sich nicht nachzuhaken. Stattdessen fragte sie: „Warum ist das Zusammenleben mit Gregor auf Dauer nichts für dich? Ihr scheint mir sehr gut miteinander auszukommen in eurem Habichthorst.“
Karlo lachte laut und unter seinen Augen bildeten sich kleine Fältchen. Das stand ihm, fand Marie.
„Habichthorst. Ja, das entspricht Gregors Idealvorstellung einer Männer-WG. Aber um ehrlich zu sein, habe ich nicht vor, in zehn Jahren immer noch das Badezimmer mit einem chaotischen Womanizer zu teilen.“
Marie musste schmunzeln. „Und wie stellst du dir deine Zukunft dann vor?“
„Naja, wenn die richtige Frau auftaucht, hat sie gute Chancen, Gregor seinen Mitbewohner auszuspannen. Außerdem möchte ich Kinder.“
Das passte nicht zu dem Bild, das sich Marie bisher von Karlo gemacht hatte. Karlo, der sexy Matrose. Karlo, der flirtende Aufschneider. Karlo, der karriereorientierte Chef. Aber Karlo, der liebende Vater? Oder Karlo, der treue Ehemann?
Marie stellte sich Karlo dabei vor, wie er mit seinen beiden Kindern im Garten herumtollte. Das Mädchen, das er durch die Luft wirbelte, hatte lange rote Locken. Der Junge, der kreischend um die beiden herumrannte, dunkelblonde Stoppeln. Der Garten ähnelte dem ihrer Eltern.
Hör auf mit dem Quatsch!, ermahnte Marie sich selbst. Erst stellte sie sich ihre gemeinsamen Kinder mit von Bornheim vor, jetzt die mit Karlo. Das war ja schon nicht mehr normal. Doch sie konnte das Bild in ihrem Kopf nicht verscheuchen. Es gefiel ihr. Außerdem gefiel ihr Karlos warme Hand, die ihre fest umschloss, während sie beide den Weg durch die Nacht suchten.
„Meine Eltern kommen mich nächste Woche übrigens besuchen“, unterbrach Karlo die Stille.
Seine Eltern? „Schon komisch, du kennst meinen
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