Verräterherz (German Edition)
Überresten von Lucien Chevrier, dem das Vampirsein aus Versehen injiziert wurde. Ich bin ein Geschöpf des Todes. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Ich weiß nicht, wie sich andere meiner Art fühlen, denen das Gleiche geschehen ist, denn ich meide solche Fragen für gewöhnlich, aber ich fühle mich wie ein Außenseiter. Und ich gebe zu, dass es schwer zu verstehen ist, wer ich eigentlich bin, denn dass ich die Körper meiner Opfer übernehmen kann, ist nicht gerade dazu geeignet, mich als ein Individuum zu begreifen. Nun könnte ich behaupten, ich besäße eine Seele, die zum Vampir geworden ist, und die ich mitnehme in eben jene Körper, die ich ohne ihr Herz unter meine Kontrolle bringe.
Seele – die Menschen verbinden so vieles mit diesem Wort. Ich weiß nicht, wie man das nennt, was mich ausmacht. Ich kann dir nur versichern, dass es etwas ist, das mich zu dem macht, der ich bin. Für dich muss ich wie ein Monster anmuten – und das bin ich ganz sicher auch, wenn man es aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet. Ich nähre mich, also töte ich auch. Das allein ist sicher nicht weiter verwerflich, doch dass es Menschen sind, die ich morde, ist sicher ein Problem zwischen uns beiden.
Nun, wie ich dir schon mitteilte, war mir deshalb meine Uhr so wichtig. Darum faszinierte mich die Tatsache, dass Uhren in Casinos nirgends zu finden sind. Und da es dort auch keine Fenster gibt, sollen die Spieler auf diese Art gänzlich zeitlos gemacht werden und sich dem Spiel hingeben, egal, ob es helllichter Tag ist oder finsterste Nacht. Sie sollen dazu animiert werden, sich der eigenen Kontrolle zu entziehen, denn genau das bewirken Uhren. Sie ermöglichen die Selbstkontrolle, so wie sie mir deutlich machen, wann meine Nahrungsaufnahme gestattet und wann sie als Völlerei verwerflich ist. Ich hatte mich diesen Regeln der Zeit ja selbst unterworfen, und doch kam mir im Casino der Gedanke, was geschehen würde, wenn auch ich die Zeit einfach noch mal aus dem Blick verlor. Während ich durch die Reihen blinkender und lärmender Automaten schlenderte, nahm der Gedanke fast übermächtige Züge an. Ich verließ das Casino, um Luft zu schnappen. Obwohl die zusätzliche Sauerstoffzufuhr, die in die Casinos gepumpt wird, dies eigentlich überflüssig macht, und für mich das eine wie das andere körperlich völlig irrelevant ist. Dennoch hoffte ich, Abstand zu finden und wieder zu klarem Verstand zu kommen.
Ich streifte den Boulevard entlang und sah mir all die nachgebildeten Städte und Sehenswürdigkeiten an. Es begann gerade dunkel zu werden und die Lichter machten aus der Stadt ein Traumland aus Farbexplosionen. Gigantisch, schrill, abstoßend und anziehend zugleich. Die Menschen wimmelten umher, fotografierten, staunten und suchten – Sie suchten den Zauber, der ihnen versprochen worden war. Sie suchten Reichtum, Sex und Drogen. Doch was suchte ich? Ich suchte die Abwechslung, so wie stets, wenn ich mich auf Reisen begab. Und während ich die Wasserspiele vor dem Bellagio ansah, spielte ich immer noch mit dem Gedanken, zur Abwechslung mal meine eigene Uhr zu missachten. Ich könnte mich der Völlerei hingeben, selbst wenn ich sie damit bezahlte, dass mir übel wurde. Ist es nicht genau das, was ihr Menschen tut, indem ihr zuviel Alkohol trinkt? Und dennoch empfindet ihr es als Freiheit. Wie könnt ihr mir da übel nehmen, dass ich in Gedanken ein wahres Blutbad anrichtete, das mich über die Maßen sättigen sollte?
Aber es kam anders, um das gleich vorwegzunehmen.
~ღ~
Es dauerte nicht lange, bis ich bei meinem Spaziergang über den Boulevard in den Besitz einiger Kärtchen gelangte, auf denen mir Frauen angeboten wurden. Sie waren recht ansehnlich, wie ich zugeben muss, und an jeder Ecke bekam ich mehr und mehr dieser Karten zugesteckt, so wie jeder andere Mann in Las Vegas auch, wenn er sich nicht beharrlich sträubt. Ich möchte nicht moralischer erscheinen, als ich es bin, denn wie dir inzwischen bekannt ist, unterliegt meine Moral ganz eigenen Regeln – und dennoch fand ich es befremdlich, dass mir weibliche Wesen innerhalb von 20 Minuten in meinem Hotelzimmer zur Verfügung stehen sollten, ganz so, als würde ich eine Pizza bestellen.
Im Allgemeinen ist es so, dass ich mir ein Opfer auswähle. Ich gehe nach dem Geruch oder lasse mich von Situationen verführen, die meinen Hunger entfachen. Wütende Menschen bieten sich geradezu an, denn ihr Blut pulsiert heftig und regt meinen Appetit an.
Diesmal
Weitere Kostenlose Bücher