Verrat im Zunfthaus
den vom Rhein heranwehenden Geruch nach Fisch und Abfall wahr. Ihr gesamter Körper fühlte sich an wie gelähmt, die Trauer machte sie fast wahnsinnig.
Ihr Vater war tot. Unwiderruflich tot. Zwar hatte er in den letzten Wochen das Bett kaum verlassen können und war zumeist so verwirrt gewesen, dass er sie oft nicht einmal mehr erkannt hatte, aber jetzt war er tot. Adelina würde ihm nie wieder sein Essen ans Bett bringen, es würde keine kurzen, aber umso wertvolleren Momente geben, in denen ihr Vater wieder ganz der Alte war und freudig seinen Enkel begrüßte. Adelina ahnte, dass dieser Verlust sich noch oft schmerzhaft bemerkbar machen würde. Und was war mit Franziska geschehen? Der Himmel mochte wissen, was dieser Gustav ihr angetan hatte.
Auch Moses kam ihr in den Sinn. Nachdem er lauthals gebellt hatte – vermutlich, um Franziska zu verteidigen –, hatte sie ihn plötzlich nicht mehr gehört. Hatte Gustav ihn erschlagen? Und wo war Mira abgeblieben, nachdem sie sie hinaufgeschickt hatte? War dieser Mistkerl auch über sie hergefallen?
In Adelina machten sich die verschiedensten Gefühle breit. Hass, Wut, auch Angst. Gerne hätte sie geschrien, gegen die Tür ihrer Zelle gehämmert, nach einer Erklärung für all die furchtbaren Ereignisse der letzten Stunden verlangt. Doch sie stand nur wie festgewachsen vor dem Fenster und starrte auf den grauen Wolkenstreifen. Wind war aufgekommen und hatte von der Eifel her erneut schwere Gewitterwolken nach Köln getrieben. In der Ferne grollte der erste dumpfe Donner.
Irgendwann kurz vor dem Vesperläuten hatte sie aufgebrachte Stimmen im Gang vor ihrer Zelle gehört. Sie hatte die von Meister Jupp erkannt, der wohl versucht hatte, zu ihr hineingelassen zu werden. Doch Besuche waren verboten. Auch die zweite Stimme – Reeses – hatte daran nichts ändern können. Seither war es totenstill im Bayenturm.
Sie hatte angenommen, dass der Vogt sie noch am gleichen Tage befragen würde, doch sie blieb allein in ihrer Zelle. Lediglich einer der Wachsoldaten brachte ihr einen Krug mit Wasser und eine Schale Hirsebrei. Beides stand nun neben der abgenutzten Matratze.
Der Himmel verdunkelte sich zusehends, das Donnergrollen wurde lauter. Adelina konnte von Glück sagen, dass es Sommer war, ein außergewöhnlich heißer noch dazu. Im Winter wären die Mauern der Gefängniszelle kalt wie Eis gewesen.
Wie hatte sie nur dieses Päckchen vergessen können? Wenn sie es rechtzeitig geöffnet hätte, wäre sie doch sofort damit zu Reese gegangen. Nun gab es für sie keine Möglichkeit mehr, den Fund zu rechtfertigen.
Und was hatte Laufer damit zu tun? Hatten er oder dieser Caspar sie angezeigt? Woher hätten sie wissen sollen, dass sie ein Päckchen mit solch kompromittierendem Inhalt erhalten hatte? Woher, wenn nicht …
Caspar ist einer von Hauwes Leuten, erinnerte sie sich. Hatte das etwas zu bedeuten?
Die lähmende Angst in ihrem Inneren wurde immer größer. Langsam wurde es dunkel, und die Gewitterfront kam immer näher. Grelle Blitze durchzuckten gespenstisch die Dunkelheit, gefolgt von heftigem Donnerschlag.
Ihr Vater war tot. Sie sah ihn noch immer vor sich am Boden liegen, die Augen geschlossen, das Gesicht friedlich. Die Wut und Entrüstung über den Angriff auf seine Tochter schien im Augenblick seines Todes verflogen.
Der Wind war zu einem hohlen Pfeifen angeschwollen und peitschte den Regen um die Turmmauern. Adelina begann zu frösteln, verließ ihren Platz an dem winzigen Fenster jedoch nicht.
Albert hatte ihr nur helfen wollen. Ein alter, siecher Mann, der einem kräftigen Soldaten wie Gustav rein gar nichts entgegenzusetzen hatte. Dennoch hatte er sie verteidigt, denn sie war seine Tochter. Ja, heute schien er sich daran erinnert zu haben. Warum gerade heute? Würde er noch leben, wenn sich seine Sinne im rechten Augenblick wieder vernebelt hätten?
Was würde nun mit ihr geschehen? Würde man sie offiziell anklagen? Vermutlich ja, der Gaffelrat zeigte keineGnade gegenüber seinen Gegnern. Nur, dass sie gar keine Gegnerin war. Niemals hätte sie das Bestechungsgeld angenommen. Reese wusste das. Würde er ihr helfen können? Hatte er dazu überhaupt genügend Einfluss? Das Amt des Gewaltrichters war nicht sehr hoch angesehen und nicht mit dem des Vogtes zu vergleichen.
Wann würde Bartold Scherfgin sie verhören? Würde er auch gleich den zweiten Grad der Befragung anwenden? Vermutlich, denn die Daumenschrauben wurden schon für weit geringere Vergehen
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