Verrat und Verführung
behauenen Mauerwerk, hinter gestapelten Kisten, befand sich eine schmale Tür, dem Auge verborgen, wenn man sie nicht kannte. Mit bebenden Fingern hob Christina den eisernen Bolzen, nachdem sie eine der Laternen ergriffen hatte.
Lautlos, auf gut geölten Angeln, schwang die Tür auf. In dem alten Tunnel, viele Jahre lang unbenutzt, war es dunkel und feucht. Hier herrschte Grabesstille, eine unheimliche Kälte, als würde der Atem des Todes hindurchwehen oder ein unsichtbarer Geist umherschweben. Christina zog den Schal enger um ihre Schultern und hielt die Laterne hoch, um ihren Weg zu beleuchten. Von einem kühlen Luftzug bewegt, flackerte und tanzte das winzige Flämmchen in seiner Glaskammer.
Die Augen zusammengekniffen, spähte sie ins Dunkel hinter dem schwachen Lichtschein. Doch sie sah nur undurchdringliche Schwärze. Obwohl ihre innere Anspannung wuchs, eilte sie so schnell wie möglich durch den gewundenen Gang. Einige Male strauchelte sie auf dem unebenen Boden und litt unter dem beengenden Gefühl, die Wände zu beiden Seiten würden näher rücken.
Schließlich erblickte sie weiter vorne einen Schimmer und hörte gedämpfte Männerstimmen. Trotz ihres Grauens empfand sie eine gewisse Erleichterung. Die Luft wurde frischer, der Lichtschein heller. Vor lauter Angst zitterte Christina am ganzen Körper.
Am Ende des Tunnels blieb sie stehen, hielt den Atem an und schaute in einen großen Höhlenraum mit einem Deckengewölbe. Vom Haus entfernt, lag er unterhalb eines dicht bewaldeten Hangs. Die Bäume boten Männern und Pferden ein vorteilhaftes Versteck. Entlang der Wände stapelten sich Truhen voller Münzen und Juwelen. Größere Kisten enthielten auch Kunstgegenstände, denn Mark Buckley begnügte sich nicht mit Überfällen auf wehrlose Reisende. Bei Einbrüchen in Herrschaftshäusern machte er weitere lohnende Geschäfte.
Die erforderlichen Informationen beschaffte er sich mittels eines ausgeklügelten Spionagesystems. Seine Leute belauschten Gespräche von Dienstboten in deren Quartieren oder Gasthöfen. Dadurch erfuhren sie, welche Herrschaftshäuser gerade leer standen und wessen Reisekutschen auf diesen oder jenen Strecken unterwegs waren. Nach erfolgreichen Raubzügen wurde die Beute nach London befördert und verkauft.
Buckley hatte in Reading das Büro seines Vaters, eines Anwalts, durchsucht und alte Urkunden über Oakbridge Hall gefunden. Diesen Dokumenten entnahm er Hinweise auf die unterirdischen Gänge, und so entdeckte er einen perfekten Stützpunkt für seine kriminellen Aktivitäten, ein geeignetes Versteck für das Diebesgut. Danach war es ihm nicht schwergefallen, den leichtgläubigen, hoch verschuldeten jungen Besitzer von Oakbridge für seine Pläne zu gewinnen – mit einem Angebot, das William Atherton nicht hatte ablehnen können.
Im flackernden Laternenlicht beobachtete Christina die Szene, die sich vor ihr abspielte. Tabakqualm hing in der Luft und vermischte sich mit dem widerwärtigen Geruch ungewaschener Körper. Etwa fünfzehn von Buckleys getreuen Vasallen hatten sich versammelt, ausnahmslos erprobte Diebe. Bis auf den Anführer waren alle Männer schwarz gekleidet und mit Pistolen bewaffnet. Einige saßen auf Fässern oder Truhen, andere kauerten am Boden und vertrieben sich die Zeit mit Würfelspielen.
Christinas unerwartete Ankunft überraschte sie. Sofort sprangen sie auf und griffen zu ihren Waffen. Der Anführer wandte sich zu ihr und musterte sie spöttisch. „Beruhigt euch, Leute“, mahnte er mit seiner rauen, tiefen Stimme. „Das ist Miss Atherton höchstselbst, die uns die Ehre eines Besuchs erweist. Was sie dazu veranlasst – ich kann nur vermuten, sie sehnt sich nach meiner charmanten Gesellschaft.“
Den verächtlichen Blick, den sie ihm zuwarf, schien er nicht zu bemerken. Irgendetwas hatte Mark Buckley an sich, das sie mit heftigem Abscheu erfüllte. Wann immer sie mit ihm reden musste, ekelte er sie an, und sie hasste es, die unverhohlene Wollust in seinen Augen zu lesen, wenn er sie von oben bis unten betrachtete.
Als er seinen Umhang abstreifte und zu ihr stolzierte, biss sie die Zähne zusammen. Diesem Mann durfte sie keine Angst zeigen, das würde ihn mit zu großer Genugtuung erfüllen. Stattdessen musste sie sich behaupten, so unangenehm die nächsten Minuten auch verlaufen mochten.
Mark Buckley pflegte sich nach der neuesten Mode und möglichst protzig zu kleiden. An diesem Abend erregte er Aufmerksamkeit in extravagantem, scharlachrotem
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