Verr�ter wie wir
herumtragen, wächst. Bei den Dingen, die sie Tag für Tag im Gerichtssaal erlebt, macht so etwas sie stutzig, facht ihre Neugierde an: Kinder, die nicht plappern und nicht toben. Die einem nicht in die Augen schauen können. Die Opfer sind, ohne es zu wissen. Kinder, die sich selbst die Schuld an dem geben, was die Erwachsenen ihnen antun.
»Fragen stellen ist mein Beruf «, sagt sie heftig. Sie spricht jetzt ausschließlich zu Yvonne. Luke ist nur ein verschwommener Fleck am Rande. Perry befindet sich außerhalb ihres Gesichtsfelds, von ihr bewusst dorthin abgeschoben. »Ich mache Familienrecht, ich habe Kinder als Zeugen vernommen. Was wir in unserer Arbeit tun, das tun wir auch privat. Wir können uns nicht in zwei verschiedene Menschen aufspalten. Wir bleiben immer nur wir selbst.«
In einer Bewegung, die mehr Gails Anspannung lindern soll als seine eigene, streckt Perry den Oberkörper durch und dehnt die langen Arme wie ein Schwimmer, aber Gail ist keine Entspannung anzumerken.
»Also habe ich als Erstes zu ihnen gesagt: Erzählt mir noch ein bisschen was über Onkel Wanja. Sie hatten sich so kryptisch über ihn geäußert, dass ich dachte, vielleicht ist er ein böser Onkel. ›Onkel Wanja spielt Balalaika mit uns,wir mögen ihn sehr gern, und er wird lustig, wenn er betrunken ist.‹ O-Ton Irina. Jetzt ist sie die Gesprächige und nicht ihre große Schwester. Aber ich denke bei mir: ein betrunkener Onkel, der Musik für sie spielt, was spielt der sonst noch?«
»Und das alles nach wie vor auf Englisch , nehme ich an«, fragt Yvonne, die es immer bis ins kleinste Detail wissen muss. Aber behutsam jetzt, von Frau zu Frau. »Nicht in rudimentärem Französisch oder so etwas?«
»Englisch war praktisch ihre erste Sprache. Internats-Amerikanisch mit einem leichten italienischen Einschlag. Meine nächste Frage war also: Ist Wanja ein echter Onkel oder bloß ein Onkel ehrenhalber. Antwort: Wanja ist der Bruder von unserer Mutter, und er war früher mit Tante Raïsa verheiratet, die in Sotschi wohnt, mit einem neuen Mann, den keiner leiden kann. Wir klappern jetzt den Stammbaum ab, was mir nur recht ist. Tamara ist Dimas Frau, und sie ist sehr streng, und sie betet ständig, weil sie so fromm ist, und es ist sehr gütig von ihr, uns aufzunehmen. Gütig? Aufnehmen? Und dann sage ich – clevere Anwältin, die ich bin, keine Holzhammerfragen, sondern die durchtriebenen, indirekten –, ist Dima lieb zu Tamara? Ist Dima lieb zu seinen Söhnen? Sprich: Ist Dima vielleicht ein bisschen zu lieb zu euch? Und Katja sagt, ja, Dima ist lieb zu Tamara, weil er ihr Mann ist und ihre Schwester tot ist, und er ist lieb zu Natascha, weil er ihr Vater ist und ihre Mutter tot ist, und zu seinen Söhnen, weil er ihr Vater ist. Was mir die Tür zu der Frage öffnet, die ich eigentlich stellen will, und ich stelle sie Katja, weil sie die Ältere ist: Und wer ist euer Vater, Katja? Und Katja sagt: Er ist tot. Und Irina fällt ein und sagt: Und unsere Mutter auch. Sie sind beide tot. Ich gebe so eine Art ›ach, wirklich?‹ von mir, und als sie mich nur anschauen, sage ich: Das tut mir sehr leid. Wie lange sind sie denn schon tot? Ich war mir nicht mal sicher, ob ich ihnen so ganz glaubte. Ein Teil von mir hoffteimmer noch, dass es nur ein grausamer Kinderscherz war. Inzwischen hat Irina das Reden übernommen, und Katja ist diejenige, die ein bisschen neben sich zu stehen scheint. Ich auch, aber das ist unwichtig. Sie sind am Mittwoch gestorben, sagt Irina. Den Tag mit aller Macht betont. Als ob der Tag schuld wäre. Am Mittwoch sind sie gestorben, wann immer dieser Mittwoch war. Und ich frage – es wird immer schlimmer –, meint ihr letzten Mittwoch? Und Irina sagt, ja, Mittwoch vor einer Woche, am 29 . April; ganz präzise, dass ich es auch ja richtig abspeichere. Mittwoch vor einer Woche also, und irgendetwas über einen Autounfall, und ich sitze nur da und starre sie an, und Irina nimmt meine Hand und streichelt sie, und Katja legt den Kopf in meinen Schoß, und Perry, den ich völlig vergessen hatte, schlingt die Arme um mich, und die Einzige, die heult, bin ich.«
* * *
Gail hat sich den Zeigefingerknöchel zwischen die Zähne geklemmt, wie sie es auch im Gerichtssaal macht, wenn sie sich gegen unprofessionelle Emotionen schützen will.
»Als ich es hinterher in unserem Häuschen mit Perry rekapituliert habe, ergab sich ein mehr oder weniger klares Bild«, sagt sie, die Stimme ein wenig erhoben, um noch unparteiischer zu
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