Verr�ter wie wir
flach darüber ein Balken strahlenden Sonnenlichts. Und pechschwarze Schatten, wo das Licht nicht hinreichte.«
»Und kalt war es«, klagte Gail und schlang theatralisch die Arme um sich. »Eine Kälte, wie nur leere Häuser sie ausstrahlen. Und dazu dieser klamme Grabgeruch. Aber mein einziger Gedanke war: Wo sind die Mädchen? Warum ist von ihnen nichts zu hören oder zu sehen? Warum ist nichts und niemand zu hören als nur dieser Wind? Und wenn niemand da ist, wozu dann diese ganze Heimlichtuerei?Wem machen wir hier etwas vor außer uns selbst? Und du dachtest das Gleiche, nicht wahr, Perry, das hast du mir hinterher ja gesagt.«
* * *
Und hinter Dimas erhobenem Zeigefinger, so Perry, das Gesicht eines Fremden. Aller Überschwang schlagartig daraus verschwunden. Sogar aus den Augen. Keine Spur von Humor mehr. Es war erstarrt. Als wäre es todwichtig, dass wir Angst haben. Genauso große Angst wie er selbst. Und während sie ihn anstarrten, verwirrt und, ja, erschrocken, wurde plötzlich wie eine Geistererscheinung Tamara sichtbar, die von ihnen unbemerkt schon die ganze Zeit in einer Ecke des kleinen Flurs gestanden hatte, im finstersten Winkel jenseits der Sonnenstreifen. Sie trug dasselbe lange schwarze Kleid wie bei dem Tennismatch und drei Tage später im Wagendunkel mit Dima, und sie sah aus wie ihr eigenes Gespenst.
Gail riss die Erzählung wieder an sich:
»Das Erste, was ich von ihr sah, war ihr Bischofskreuz. Und um das Kreuz nahm dann der Rest von ihr Gestalt an. Sie hatte sich für die Geburtstagsparty Zöpfe geflochten, hatte Rouge aufgelegt und Lippenstift um den Mund geschmiert – und zwar richtig geschmiert. Sie sah so verrückt aus wie ein Märzhase. Sie hat sich den Finger nicht gegen die Lippen gedrückt. Das hatte sie gar nicht nötig. Ihr ganzer Körper schien ein Warnschild in Schwarz und Rot. Vergiss Dima, dachte ich. Das hier ist der wahre Irrsinn. Und natürlich fragte ich mich nach wie vor, was wohl ihr Problem war. Denn sie hatte eins, aber wie.«
Perry setzte zum Sprechen an, aber sie übertönte ihn resolut:
»Sie hielt ein Blatt Papier in der Hand – A 4 -Schreibmaschinenpapier, in der Mitte gefaltet – und streckte es uns hin.Wofür? War es ein religiöses Traktat? Macht euch bereit, denn der Herr naht? Oder händigte sie uns einen Haftbefehl aus?«
»Und Dima, was machte Dima derweil?«, fragte Luke, nun wieder an Perry gewandt.
»Der ließ endlich meinen Arm los«, sagte Perry mit einer Grimasse. »Aber erst, nachdem er ganz sicher war, dass ich Tamaras Zettel im Blick hatte. Den sie mir daraufhin unter die Nase hielt. Und Dima nickte dazu: Lesen! Aber immer noch mit dem Finger am Mund. Und Tamara wie eine Besessene aussehend. Nein, eigentlich wirkten sie alle beide besessen. Von einer Angst, mit der sie uns anstecken wollten. Aber Angst wovor? Also las ich es. Nicht laut natürlich. Und auch nicht sofort. Ich stand nicht im Licht. Ich musste damit erst ans Fenster gehen. Auf Zehenspitzen – was zeigt, wie sehr wir in ihrem Bann standen. Und dann musste ich mich mit dem Rücken zum Fenster stellen, weil die Sonne so blendete. Dann musste Gail mir noch meine Ersatzlesebrille aus ihrer Handtasche geben …«
»Weil er die richtige in unserem Häuschen vergessen hatte wie immer …«
»Und dann kam Gail auf Zehenspitzen hinter mich geschlichen …«
»Weil du mir ein Zeichen gemacht hattest …«
»Zu deinem Schutz – und las über meine Schulter mit. Und ich würde sagen, wir haben es beide mindestens zweimal gelesen.«
»Mindestens«, bestätigte Gail. »Ich meine, was für ein Gottvertrauen! Wie kamen sie dazu, sich uns dermaßen auszuliefern? Warum waren sie sich plötzlich so sicher, dass wir die Richtigen sind? Es war so eine … so eine verdammte Zumutung! «
»Viel anderes blieb ihnen nicht übrig«, meinte Perry gedämpft, zu einem weisen Nicken von Luke, dem sich Yvonnediskret anschloss, und Gail fühlte sich noch ausgegrenzter als den ganzen Abend schon.
* * *
Vielleicht setzte die angespannte Atmosphäre in dem stickigen Kellerraum Perry langsam doch zu. Oder vielleicht, dachte Gail, war es ein sehr verspäteter Anfall von schlechtem Gewissen. Jedenfalls ließ er seinen langen Körper im Stuhl nach hinten fallen und die knochigen Schultern hängen, um sie zu lockern, und zeigte mit dem Finger auf den braunen Aktenordner, der zwischen Lukes zierlichen Fäusten lag:
»Aber Sie haben Tamaras Text ja in unserem Dokument vorliegen, das heißt, ich muss ihn
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