Verr�ter wie wir
ich Niki, okay?«
»Okay.Sehr gut. Hallo, Niki«, sagt Gail. »Wo kommen Sie her?«
»Perm, Russland. Guter Platz. Perry? War auch schön heut Abend?«
Gail will Perry fast schon anstoßen, da erwacht er von selber zum Leben. »Großartig, danke, Niki. Ausgezeichnetes Essen. Ganz reizende Leute. Hervorragend. Der beste Abend unseres Urlaubs.«
Nicht schlecht fürs erste Mal, denkt Gail.
»Wann sind Sie gekommen nach Three Chimneys?«, will Niki wissen.
»Wir wären beinahe überhaupt nicht hingekommen, Niki«, ruft Gail und kichert, um Perrys Zögern zu übertünchen. »Stimmt’s, Perry? Wir haben den Naturpfad genommen und mussten uns durchs Unterholz hacken! Wo haben Sie so gut Englisch gelernt, Niki?«
»Boston, Massachusetts. Sie haben Messer?«
»Messer?«
»Zum Holzschlagen, Sie brauchen großes Messer.«
Diese toten Augen im Rückspiegel, was haben sie gesehen? Was sehen sie in diesem Moment?
»Wenn wir nur eins gehabt hätten, Niki«, lacht Gail, die immer noch als ihr Vater auftritt. »Nur laufen wir Engländer dummerweise nicht mit Messern herum.« Was für einen Blödsinn schwatze ich da zusammen? Egal. Weiterschwatzen. »Gut, manche natürlich schon, um ganz ehrlich zu sein, aber nicht Leute wie wir. Wir sind in der falschen Gesellschaftsschicht dafür. Sie haben ja vielleicht von unserem Klassensystem gehört? Also, in England trägt man nur ein Messer, wenn man untere Mittelschicht oder darunter ist.« Und zu neuerlichen Lachsalven umrunden sie den Kreisverkehr und biegen in die Hoteleinfahrt ein.
Zwischen den angestrahlten Hibiskushecken tappen sie auf ihr Häuschen zu, benommen, zwei Fremde. Perry schließtdie Tür hinter sich, macht aber kein Licht. In der Dunkelheit stehen sie einander gegenüber, das Bett zwischen ihnen. Eine Ewigkeit bleibt auch der Ton ausgeschaltet. Was nicht heißt, dass Perry nicht genauestens weiß, was er sagen will:
»Ich brauche Stift und Papier. Und du auch.« Seine Kommandostimme, sonst nur für saumselige Studenten reserviert, die ihre wöchentliche Hausarbeit verschusselt haben, mutmaßt Gail.
Er zieht die Vorhänge vor. Er knipst das kümmerliche Leselämpchen auf meinem Nachttisch an, so dass das restliche Zimmer im Dunkeln bleibt.
Er ruckt meine Nachttischschublade auf und zerrt einen gelben Schreibblock heraus: auch meiner. Beschrieben mit meinen brillanten Überlegungen zu Samson gegen Samson : mein erster halbwegs großer Fall, mein heißersehntes Sprungbrett zu Ruhm und Reichtum.
Oder doch nicht?
Er reißt die Seiten, auf denen ich meine Perlen juristischer Weisheit verewigt habe, einfach heraus und stopft sie zurück in die Schublade, trennt das, was von meinem gelben Block übrig ist, in zwei Hälften und wirft mir eine hin.
»Ich gehe da rein« – er zeigt auf das Bad. »Du bleibst hier. Setz dich an den Schreibtisch und schreib alles auf, woran du dich erinnerst. Alles, was passiert ist. Und ich mache es genauso. Einverstanden?«
»Warum können wir nicht beide hier drin sein? Herrgott noch mal, Perry. Ich hab eine Scheißangst. Du nicht?«
Auch abgesehen von einem verzeihlichen Verlangen nach seiner Nähe ist ihre Frage nur vernünftig. Neben einem vielbenutzten Bett von der Größe eines Rugbyfelds enthält ihr Häuschen noch ein Schreibpult, zwei Sessel und einen Tisch. Hinter Perry liegt sein Tête-à-Tête mit Dima, aber was hatte Gail außer dem Exil mit der übergeschnappten Tamara und ihren bärtigen Heiligen?
»SeparateZeugen haben Anspruch auf separate Aussagen«, verfügt Perry, schon halb im Badezimmer.
»Perry! Halt! Komm zurück! Bleib da! Ich bin hier die Juristin, nicht du, verdammt. Was hat Dima dir erzählt?«
Nichts, nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen. Es ist, als wäre eine Klappe zugefallen.
»Perry.«
»Was?«
»Verdammt noch mal. Ich bin’s. Gail. Kennst du mich nicht mehr? Also setz dich gefälligst hin und sag Tante Gail, was Dima dir erzählt hat, dass du hier plötzlich als Zombie herumschleichst. Na schön, dann setz dich nicht hin. Sag’s mir im Stehen. Geht morgen die Welt unter? Ist er ein Mädchen? Was zum Teufel läuft zwischen euch, das ich nicht wissen darf?«
In seinem Gesicht zuckt es. Unübersehbar. Deutlich genug zumindest, um sie hoffen zu lassen. Fehlanzeige.
»Ich kann nicht.«
»Was kannst du nicht?«
»Dich da mit hineinziehen.«
»Schwachsinn.«
Noch ein Zucken. Auch nicht ergiebiger als das erste.
»Hörst du mir zu, Gail?«
Wonach sieht’s denn aus?
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