Verr�ter wie wir
hervor, und sie ist eng mit seiner Schrift bekritzelt.
»Trink einen Schluck«, lädt sie ihn ein und zeigt auf die Rumflasche.
Er überhört es.
»Es tut mir leid«, sagt er. Dann räuspert er sich und sagt es noch einmal: »Es tut mir furchtbar leid, wirklich, Gail.«
Worauf sie Stolz und Vernunft gleichermaßen in den Wind schlägt, aufspringt, zu ihm läuft und ihn umarmt. Aus Sicherheitsgründen hält er die Arme hinterm Rücken verschränkt. Sie hat Perry noch nie in Angst erlebt, aber jetzt hat er Angst. Nicht um sich selbst. Um sie.
* * *
Mit verschwommenem Blick schaut sie auf ihre Uhr. Halb drei. Sie steht auf, will sich noch einen Rioja holen, verwirft die Idee, setzt sich in Perrys Lieblingssessel und merkt plötzlich, dass Natascha zu ihr unter die Decke geschlüpft ist.
»Undwas macht er, dein Max?«, fragt Gail sie.
»Er liebt mich ganz und gar«, erwidert Natascha. »Auch körperlich.«
»Ich meinte, davon mal abgesehen, womit verdient er sein Geld?«, erklärt Gail und hütet sich zu lächeln.
Es geht auf Mitternacht zu. Um dem kalten Wind zu entkommen und zwei todmüde kleine Waisenmädchen bei Laune zu halten, hat Gail im Schutz der hohen Gartenmauer aus Decken und Kissen ein Zelt gebaut. Unangekündigt hat sich auch Natascha eingefunden, buchlos diesmal. Als Erstes erkennt Gail durch einen Spalt in den Decken ihre Füße in den griechischen Sandalen, die auf ihren Auftritt warten. Mehrere Minuten verharren sie so. Lauscht sie? Nimmt sie ihren Mut zusammen? Wofür? Will sie einen Überfall vortäuschen, als Spaß für die Kinder? Da Gail bisher noch kein Wort mit Natascha gewechselt hat, kann sie über ihre möglichen Beweggründe nur mutmaßen.
Die Decke wird zurückgeschlagen, vorsichtig schiebt sich eine griechische Sandale herein, gefolgt von einem Knie und Nataschas zur Seite gewandtem Kopf mit dem schwarzen Haarvorhang. Dann die zweite Sandale und der Rest von ihr. Die kleinen Mädchen schlafen tief und rühren sich nicht. Wieder vergehen Minuten, während Gail und Natascha Schulter an Schulter daliegen und durch die Öffnung in der Zeltwand stumm zu den Raketensalven hinausschauen, die Niki und seine Waffenbrüder mit beunruhigender Effizienz abfeuern. Natascha zittert. Gail zieht eine Decke über sie beide.
»Es hat den Anschein, als wäre ich kürzlich schwanger«, bemerkt Natascha in gepflegtem Jane-Austen-Englisch, nicht zu Gail, sondern zu einer Garbe grellbunter Pfauenfedern, die am Nachthimmel herabrieseln.
Wenn du das Glück hast, dass dich ein junger Mensch ins Vertrauen zieht: nie ihn direkt ansehen, immer nur einen gemeinsamen Punkt in der Ferne – Gail Perkins, ipsissima verba . In der Zeit vor ihrem Jurastudium hat sie an einer Schule für lernbehinderte Kinder unterrichtet, und dies gehört zu den Dingen, die sie dort gelernt hat. Und wenn einem eine bildschöne Sechzehnjährige aus heiterem Himmel gesteht, dass sie schwanger zu sein glaubt, wird eine solche Lektion doppelt wichtig.
* * *
»Gegenwärtig ist Max Skilehrer«, beantwortet Natascha Gails beiläufige Frage nach dem möglichen Vater. »Aber das ist vorübergehend. Er wird Architekt sein und Häuser für arme Leute ohne Geld bauen. Max ist sehr kreativ, außerdem sehr einfühlsam.«
Sie sagt es ohne jede ironische Distanz. Dazu ist wahre Liebe zu ernst.
»Und seine Eltern, was machen die?«, fragt Gail.
»Sie haben Hotel. Es ist für Touristen. Es ist minderwertig, aber Max ist in materiellen Dingen ganz und gar philosophisch.«
»Ein Hotel in den Bergen?«
»In Kandersteg. Das ist ein Dorf in den Bergen, sehr touristisch.«
Gail sagt, dass sie selbst nie in Kandersteg war, aber dass Perry an einem Skirennen dort teilgenommen hat.
»Die Mutter von Max ist ganz und gar ohne Kultur, aber sie ist sensibel und spirituell wie ihr Sohn. Der Vater ist ganz und gar negativ. Ein Idiot.«
Schön auf neutralem Boden bleiben. »Und arbeitet Max für die offizielle Skischule«, fragt Gail weiter, »oder privat?«
»Max ist ganz und gar privat. Er fährt nur mit Menschen Ski, die er achtet. Am liebsten abseits der Piste, das ist ästhetisch. Und auf Gletschern.«
Ineiner abgelegenen Hütte hoch über Kandersteg, so Natascha, war es denn auch, dass die Leidenschaft sie beide übermannte:
»Ich war eine Jungfrau. Auch sehr unwissend. Max ist ganz und gar rücksichtsvoll. Es liegt in seiner Natur, auf alle Menschen Rücksicht zu nehmen. Selbst in der Leidenschaft ist er ganz und gar rücksichtsvoll.«
Gail,
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