Verr�ter wie wir
sagt zu Wory: ›Liebe Brüder, hier ist Dima. Dima ist bereit , meine Brüder. Nehmt ihn auf.‹ Also nehmen sie Dima auf, sie machen ihn Mann. Sie machen ihn Ehrenkrimineller. Aber Nikita muss Dima trotzdem noch beschützen. Das kommt, weil Dima sein … sein …«
Während Dima der Ehrenkriminelle noch nach dem passenden Ausdruck sucht, kommt ihm Perry der scheidende Oxford-Dozent zu Hilfe:
»Sein Jünger ist?«
» Jünger! Richtig , Professor! Wie bei Jesus! Nikita wird sein Jünger Dima beschützen. Das ist normal. Ist Wory-Gesetz. Er wird ihn immer beschützen. Das ist versprochen. Nikita hat mich Wor gemacht. Deshalb beschützt er mich. Aber Nikita stirbt.«
Dima tupft mit dem Taschentuch an seiner kahlen Stirn herum, dann fährt er sich mit dem Handgelenk über die Augen, dann zwickt er mit Daumen und Zeigefinger die Nasenlöcher zusammen wie ein Schwimmer, der aus dem Wasser auftaucht. Als er die Hand sinken lässt, sieht Perry, dass er um Nikita weint.
* * *
Hector folgt dem Ruf der Natur. Luke hat Kaffee gekocht. Perry nimmt eine Tasse an und lehnt auch einen Schokoladenkeks nicht ab. Er ist im besten Vorlesungsmodus, paradiertsämtliche seiner Fakten und Beobachtungen, um sie mit all der Präzision und Penibilität darzulegen, derer er fähig ist. Aber über das aufgeregte Glitzern in seinen Augen, die Röte, die auf seinen mageren Wangen glänzt, kann das nicht ganz hinwegtäuschen.
Und vielleicht merkt das sein innerer Zensor und schreitet ein, denn als Perry fortfährt, ist sein Stil knapp, fast stakkatohaft, frei vom Taumel des Abenteuers, der nüchterner Didaktik so schlecht zu Gesicht steht.
»Nikita hatte sich ein Lagerfieber zugezogen. Es war tiefster Winter. Temperaturen um die minus sechzig Grad. Viele Gefangene starben. Die Wärter scherten sich nicht darum. Die Lazarette waren nicht zum Heilen da, sie waren der Ort, wo man starb. Nikita war ein zäher Hund, deshalb brauchte er lange fürs Sterben. Dima pflegte ihn. Versäumte seine Lagerarbeit, wurde in die Strafzelle geworfen. Kaum kam er raus, lief er zurück zu Nikitas Pritsche, bis sie ihn wieder einfingen. Prügel, Nahrungsentzug, Lichtentzug, während er bei Minusgraden an der Wand angekettet war. All diese kleinen Kniffe eben, die ihr Leute an weniger zimperliche Länder outsourct und dann so tut, als wüsstet ihr von nichts«, fügt er in einem Aufflackern halbhumoristischer Streitlust hinzu, das überhört wird. »Und wie er so Nikitas Hand hielt, fassten sie den Plan, dass Dima seinen eigenen Protegé in die Wory-Bruderschaft einführen sollte. Ein feierlicher Moment, allem Anschein nach: der sterbende Nikita, der durch Dima seine Nachfolge regelt. Die Fackel, die an die nächste Verbrechergeneration weitergereicht wird. Dimas Protegé – sein Jünger, wie er ihn nun bevorzugt nennt, mea culpa – war ein gewisser Michail, genannt Mischa.« Perry schildert die Szene:
»›Mischa ist Mann von Ehre, wie ich!‹, versichert Dima dem Ehrenkomitee der Wory-Kämpfer. ›Ist Krimineller, kein Politischer. Mischa liebt unsere wahre Mutter Russland,nicht Sowjetunion. Mischa achtet alle Frauen. Er ist stark, ist rein , ist nicht Specht, nicht Hund, nicht Militär, nicht Wärter, KGB . Ist nicht Polizei. Er tötet Polizei. Er hasst alle Apparatschiks. Mischa ist mein Sohn. Er ist euer Bruder. Nehmt Dimas Sohn als euren Wory-Bruder auf!‹«
* * *
Perry noch immer im Vorlesungsmodus. Das Folgende für Sie zum Mitnotieren, meine Damen und Herren. Die Passage, die ich nun vortrage, ist eine Kurzversion von Dimas Geschichte, so wie er selbst sie erzählt hat, mit reichlich Wodka im Krähennest des Hauses mit Namen Three Chimneys:
»Aus Kolyma entlassen, eilte er heim nach Perm und kam gerade rechtzeitig, um seine Mutter zu beerdigen. Die frühen achtziger Jahre waren goldene Jahre für Kriminelle. Ein Leben auf der Überholspur, kurz und gefährlich, aber profitabel. Dank seiner erstklassigen Referenzen wird Dima von den Permer Wory mit offenen Armen aufgenommen. Er hat einen Kopf für Zahlen, wie er feststellt, und tut sich schon bald durch illegale Währungsspekulationen, Versicherungsbetrug und Schmuggel hervor. Seine wachsende Umtriebigkeit als Kleinkrimineller führt ihn in die DDR , mit Schwerpunkt auf Autodiebstahl, gefälschten Pässen und Währungsbetrügereien. Dabei lernt er behelfsmäßig Deutsch. Er nimmt sich seine Frauen, wo er sie findet, aber seine dauerhafte Partnerin ist Tamara, die auf dem Schwarzmarkt in Perm so
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