Verruchte Lady
Mylord?« Phoebe blickte Kilbourne an, der sie mit ernster Miene vom kalten Buffet zurück in den Ballsaal führte. Aus reiner Langeweile hatte sie drei Hummer-Canapes und einen Berg Eiscreme gegessen.
“Gott bewahre, nein.« Kilbourne setzte sein verächtlichstes Lächeln auf. Wie immer sah er äußerst elegant aus in seiner tadellos geschneiderten Abendgarderobe. »Solche Geschichten sind nicht nach meinem Geschmack, Lady Phoebe. Meinen Si nicht, daß Sie allmählich etwas zu alt werden für solche Dinge?«
»Ja, und ich werde jede Minute älter.«
»Wie bitte?«
Phoebe beeilte sich zu lächeln. »Nichts. Wissen Sie, alle Welt hat das Buch gelesen. Selbst Byron und der Prinzregent.« Vor allem, da sie darauf bestanden hatte, daß Lacey ihnen jeweils eine Kopie zukommen ließ, dachte sie vergnügt. Sie hatte gewußt, daß sie damit ein gewisses Risiko einging, aber sie hatte Glück gehabt. Sowohl Byron als auch der Prinzregent hatten den Ritterzug gelesen und ihren Freunden erzählt, daß es ihnen gefallen hatte. Als sich das herumsprach, war das Buch umgehend ein Erfolg gewesen.
Kilbourne mußte demnach einer der wenigen Menschen in London sein, der Gabriels Buch nicht gelesen hatte.
Jedesmal, wenn sie sich vorstellte, mit dem langweiligen Kilbourne verheiratet zu sein, sah sie ein Leben voller ärgerlicher Gespräche wie das, was sie gerade führten, vor sich. Eine Ehe mit Kilbourne würde niemals funktionieren. Sie konnte nur hoffen, daß er nicht um ihre Hand anhielt und sie zwang, ihm einen Korb zu geben. Was für einen Sturm im Wasserglas das heraufbeschwören würde. Ihre gesamte Familie wäre entsetzt.
»Ich muß sagen, die Beliebtheit dieses lächerlichen Romans überrascht mich.« Kilbourne sah sich in dem Ballsaal um, in dem sich die Menschen drängten. »Ich hätte gedacht, daß die bessere Gesellschaft erbaulichere Dinge zu tun hat, als solchen Unsinn zu lesen.«
»Über den erhabenen Ton des Ritterzugs kann man sich sicher nicht beklagen. Und es handelt sich um eine Abenteuergeschichte, die von der Vorstellung von mittelalterlicher Ritterlichkeit beseelt ist. Es geht um Ehre und Edelmut und Tapferkeit. Und ich muß sagen, daß das Thema Liebe auf eine sehr erbauliche Art behandelt wird.«
»Ich nehme an, unsere Vorfahren waren ebenso praktisch veranlagt wie wir, wenn es um das Thema Liebe ging«, sagte Kilbourne. »Geld, Familie und Besitz waren die wichtigsten Faktoren, wenn es um eine Eheschließung ging. So war es schon immer. Und was Ehre und Edelmut angeht, nun, ich nehme an, daß die Vorstellungen davon im Mittelalter weniger ausgeprägt waren als in unserer Zeit.«
»Da könnten Sie recht haben. Aber mir scheint, daß das wichtigste die Vorstellung von der Ritterlichkeit ist. Vielleicht gab es sie niemals wirklich, aber das heißt nicht, daß sie nicht angestrebt werden sollte.«
»Das ist alles ein Haufen Unsinn, der nur für träumerische junge Frauen und Kinder geeignet ist. Nun denn, Lady Phoebe, vielleicht sollten wir das Thema wechseln. Ich frage mich, ob Sie mich vielleicht nach draußen in den Garten begleiten würden.« Kilbournes Finger schlossen sich fester um ihren Arm. »Es gibt da etwas, über das ich schon seit längerem mit Ihnen sprechen möchte.«
Phoebe unterdrückte einen Seufzer. Das letzte, was sie sich wünschte, war ein vertrauliches Gespräch mit Kilbourne. »Vielleicht ein andermal, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mylord. Ich glaube, ich sehe da drüben gerade meinen Bruder. Ich muß unbedingt mit ihm sprechen. Bitte entschuldigen Sie mich.«
Kilbournes Gesicht spannte sich an. »Wie Sie wünschen. Ich werde Sie zu Ihrem Bruder begleiten.«
»Vielen Dank.«
Als der einzige männliche Clarington-Erbe hatte Anthony den Titel des Vicomte Oaksley, und eines Tages würde er der neue Graf. Er war zweiunddreißig und hatte eine athletische Figur. Außer seiner Begabung für Mathematik hatte er auch das blonde Haar und die ausgeprägten Gesichtszüge seines Vaters geerbt.
Darüber hinaus hatte Anthony das kühle, aristokratische SeIbstbewußtsein geerbt, das von dem Wissen herrührte, zahl-reiche Generationen von Reichtum, guter Erziehung und Mach hinter sich zu haben.
Phoebe mochte ihren Bruder sehr gerne, aber es ließ sich nich leugnen, daß Anthony fast ebenso autokratisch und herrisch sei konnte wie Clarington selbst. Sie nahm das Verhalten der beide meistens mit gutmütiger Gelassenheit hin, aber hin und wieder war ihr der Beschützerinstinkt der Männer
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