Verrückte Lust
wolle, solle er lieber aufpassen. Man konnte einen verklagen wegen… Sie wußte auch nicht, weswegen. Auch
Hildred riet ihm, vorsichtig zu sein. Du liebe Zeit, sie waren wirklich zimperlich – und dabei hatte er noch keine einzige Zeile geschrieben. Trotzdem: gut. Vielleicht würde diese Kuh in Panik geraten und endlich Leine ziehen. Sie war in letzter Zeit so nervös, daß sie einen Hammer und ein Messer an ihre Tür gehängt hatte. Warum tat sie das? Wollte sie ihn auf Gedanken bringen?
Hildred war von diesem Drama nicht mehr erbaut. Sie war völlig fertig. Tagsüber bedienen und nachts Holzbeine
schnitzen und Perücken färben. Und was den Herrn und
Meister anging, so konnte er nicht mal einen Nagel gerade in die Wand schlagen. Er kritzelte bloß seine Notizen oder brach neue Auseinandersetzungen vom Zaun, mit denen sie sich in den Wahnsinn trieben. Nein, für Hildred konnte es nicht mehr lange so weitergehen. Sie war müde, erschöpft. Zu erschöpft, um auch nur so zu tun, als empfände sie Lust, wenn sie miteinander schliefen. Und ihr Herr und Meister war hellwach, wenn sie ins Bett gingen. Natürlich – er hatte ja auch den ganzen Tag nichts anderes getan als das Geschirr abzuwaschen und den Boden zu fegen, und selbst das war ihm noch zuviel.
Es hielt ihn von seinem Gekritzel ab.
Es gab jetzt Tage, da er, wenn sie zu Bett gegangen waren, wieder aufstand und einen Spaziergang machte. Hildred rührte sich nicht, wenn er über sie hinwegkletterte. Sie schlief wie eine Tote.
Es wurde ihm zur Gewohnheit. Er konnte ohne seinen
Spaziergang nicht mehr einschlafen. Eines Nachts… Nachts?
Der Morgen hatte schon fast gegraut. Er war im Hafen
herumgewandert und hatte nachgedacht. Tief in Gedanken versunken, ging er die schmale, schluchtartige Straße gleich hinter den Lagerhäusern entlang. Eine totenähnliche Stille, nur hin und wieder durchbrochen vom Tuten eines Schleppers.
Plötzlich hörte er einen Schrei, gefolgt vom Geräusch
schlurfender Füße. Er fuhr herum, und ein Schlag streifte seinen Hinterkopf. Im nächsten Augenblick lag er in der Gosse und wälzte sich herum. Als er hochkam, sah er einen Mann, der an der Mauer stand. »Komm her, du…!« Er begann zu
rennen. »Bleib stehn, oder es wird dir noch leid tun!« Er beschleunigte seine Schritte. Er rannte, so schnell er konnte.
Dann: Peng! Ein Schuß und ein dumpfes Splittern an der Mauer. Fast wäre er gefallen. Einen Augenblick lang herrschte wieder die totenähnliche Stille, und dann hörte er das vertraute Geräusch eines Totschlägers, der auf das Pflaster hämmert.
Das machte ihm noch mehr angst. Wenn diese verdammten
Idioten sich nun in den Kopf gesetzt hatten… Es sah ihnen ähnlich, auf den ersten besten, den sie sahen, zu schießen…
Als er wieder zu Hause war, setzte er sich keuchend in einen Sessel. Er war naß und schlaff. Langsam und unter großen Mühen zog er sich aus. Er kroch ins Bett und lag zitternd da.
Hildred schlief wie ein Stein. Er döste ein. Seine Füße ragten aus dem Fenster. Ein Mann mit einer Axt kam und schlug sie ab; er vergrub die Füße in dem Schnee, der das kleine Stück Rasen bedeckte, und dann fing es an zu regnen, und der Regen kitzelte die gefrorenen Füße, aber er konnte nicht aus dem Fenster klettern, um sie hereinzuholen, weil das Fenster zugesperrt war. Ein Wagen fuhr vor, und Männer mit
Schrotflinten sprangen heraus; sie stützten die Gewehre auf dem Vorgartengitter ab und schossen auf das Fenster. Das Fenster war voller Löcher, durch die die Sonne ins Zimmer schien; es war eine Qual, so dazuliegen, wenn die Sonne einem in die Augen schien und die Füße draußen in dem Rasenstück steckten. Er ging. Also mußte er seine Füße wiederbekommen haben. Er ging wieder zwischen den hohen Mauern hinter den Lagerhäusern. Und seine Füße waren fest an seine Beine geklebt, denn er rannte. Eine mit Sensen und Schrotflinten bewaffnete Menge verfolgte ihn. Während er rannte, rückten die Mauern immer enger zusammen. Am Ende der Straße war nur ein schmaler Streifen Licht, als wäre dort ein Vorhang nicht ganz geschlossen. Das Licht wurde schwächer und
schwächer. Er mußte sich zur Seite drehen und zwischen den Mauern hindurchzwängen. Sie scheuerten ihm die Schienbeine auf. Ein Schuß ertönte, und dann noch einer, und noch einer…
eine ganze Salve. Die Kugeln klatschten über seinem Kopf an die Wände, schlugen quer und fielen ihm wie Sterne vor die Füße. Man schrie: »Halt! Halt!«, doch
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