Verrückte Lust
er wand sich weiter, stolperte, duckte sich, scheuerte sich Ellbogen und Schienbeine auf. Plötzlich wichen die Mauern zurück wie automatische Türen, und der Himmel leuchtete in einem gewaltigen,
blendenden Licht. »Gerettet! Gerettet!« rief er. Doch vor ihm stand eine Abteilung Fußsoldaten in schimmernder Rüstung und versperrte ihm mit langen, spitzen, vorgereckten Speeren den Weg. Hinter ihm näherte sich schreiend und fluchend die bewaffnete Menge. Er konnte die Sensen an den Mauern
klirren hören, fast den Atem seiner Verfolger im Nacken spüren. Es überkam ihn eine so große Angst, daß er gelähmt war, im Boden verwurzelt. Zaghaft versuchte er die Hände zu heben. »Seht doch… seht doch«, murmelte er schwach, »ich ergebe mich.« Einen Augenblick lang herrschte tiefe,
ohrenbetäubende Stille. Dann schritten die Männer mit den riesigen, vorgereckten Speeren voran, steif wie Automaten. Als sie ihn fast erreicht hatten, blieben sie stehen. Langsam holten sie mit ihren gewaltigen, gepanzerten Armen aus. »Ich gebe auf! Ich gebe auf!« rief er verzweifelt, und als die Worte aus seinem Mund kamen – vielleicht wurden sie ja nie gehört –, fiel ein den Himmel verdunkelnder Regen, ein spitzer,
grausamer Regen von Speeren, die sich tief und bebend in ihn bohrten. »O Gott, sie haben mich umgebracht!« schrie er.
Als er die Augen aufschlug, beugte sich Hildred, ein
Handtuch in der Hand, über ihn. Sie sah so sanft und traurig aus. In ihren Augen standen Tränen. »Was ist?« fragte er, und dann sah er, daß das Handtuch voller Blut war.
Beim Frühstück erzählte er ihnen, was passiert war. Sie sahen ihn ungläubig an. »Ach, was solls!« sagte er. »Was glaubt ihr denn, was passiert ist?« Seltsam, der Blick, mit dem sie ihn bedachten. Hildred sah mitgenommen und niedergeschlagen aus. Vanya hatte ihr sarkastisches Lächeln aufgesetzt.
»Meint ihr vielleicht, ich hätte mich umbringen wollen?«
Vanya lächelte immer noch. »Du hast es versucht«, schien ihr Lächeln zu sagen, »aber du hattest nicht den Mumm, es
wirklich zu tun.«
Er sah auf seinen Teller. Es gab keine Dramen mehr, nur noch Enttäuschungen. Er enttäuschte sie. Er war kein
Romantiker, wie Vanya sich auszudrücken pflegte. Ein Mann, der sich nicht umbringen ließ, wenn er doch allen Grund hatte zu sterben, war eine Enttäuschung. Ein solcher Mann würde auch dann noch weiterleben, wenn man seine Füße in der Rasenfläche vergrub. Er würde weiterleben, weil er nicht genug Grips hatte, um zu sterben. Dazu brauchte man nicht Mumm, sondern Phantasie. Er lebte das Leben eines
Amputierten. Man hatte ihm die Phantasie weggeschnitten.
Und ohne Phantasie konnte ein Mann ewig weiterleben, auch wenn er gar kein Mann mehr war, auch wenn man ihm Arme und Beine genommen hatte – solange nur ein paar Stücke von ihm übrig waren, die man zusammenflicken und in einen
Rollstuhl setzen konnte.
5
Es sieht aus wie in einem Spielzeuggeschäft, das gerade geplündert worden ist. Arme und Beine liegen herum,
Ungeheuer in Samtjacketts, Neros mit grünen Perücken,
hingestreckt wie betrunkene Matrosen. Überproduktion.
Arbeitslosigkeit. Alle ausgeflogen, um Essen, Zigaretten, Feuerholz aufzutreiben. Hildred ist traurigverzagt und geht oft ins Kino, wo sie im Dunkeln sitzt und ihren Gedanken
nachhängt. Niemand weiß, wann die beiden nach Hause
kommen. Aber um Mitternacht findet man sie mit Sicherheit im Cafe am Sheridan Square, in der Bude, wo Willie Hyslop und seine Kumpane sich früher zu treffen pflegten, wo sie sich natürlich immer noch treffen, wenn auch nicht so oft und gutgelaunt wie ehedem. Hier bei »Lorber’s« also versuchen Hildred und Vanya nach Mitternacht noch jemanden
aufzutreiben, der ein bißchen Kleingeld springen läßt. Dieselbe alte Meute: Toots und Ebba, Ilias und ihre Mutter, maskuline Lesben, Zuhälter, Dichter, Maler und die Huren der Maler…
Auch Amy schaut ab und zu mal vorbei, meistens mit einem blauen Auge, einem Geschenk von Homer Reed, diesem
Connaisseur der Anatomien, der nicht damit zufrieden ist, hin und wieder mal ein bißchen blau zu sein, sondern unbedingt ein ganzes Jahr im Tee sein muß. Und dann ist da noch Jake…
Alle paar Minuten taucht jemand auf und fragt, wo Jake ist.
Und wenn Jake da ist, ist alles in Butter, wie man so sagt.
Wer Jake ist? Also, Jake ist Schlosser – aber das sagt schließlich gar nichts aus über ihn, über sein Temperament, sein großes Herz, seine schalkhafte Art.
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