Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm

Vom Netzwerk:

Sicherheitsbedienstete für das Gebäude, der andere arbeitete für Trigger Happy Musselman.

SECHSTES KAPITEL


    Es gab keine Reihenfolge. Nicht erst dies, dann das. Es war alles gleichzeitig. Das Dasein eines Mädchens, geschmückt von Frauen, die ihm erst vor einer Stunde die Jungfernhaut zerrissen hatten, damit der Bräutigam sich nicht zu quälen brauchte. Das Dasein eines kleinen Kindes, das zum erstenmal nach dem Ohr eines Plüschbären tastet und zum erstenmal die Struktur der Decke spürt, mit der es zugedeckt ist. Das Dasein eines Mannes, der auf ein Metallager gezwungen wird, der die Drähte fühlt, die ihm an den Hoden und der Zunge befestigt werden, und der sich unter dem Elektroschock im Todeskrampf windet. Das Dasein eines Wachtpostens mit schmerzenden Füßen, der nichts anderes will, als nach Hause zu gehen, weil das Essen fertig ist. Das Dasein eines Jungen, der gegen den kalten Wind anrennt, überschäumend vor Kraft und Gesundheit. Das Dasein eines alten Mannes, der gezwungen ist, sein Leben in einem Körper auszuhalten, den er verabscheut, einem Körper, der ihn verraten hat und ihm Schmerzen bereitet und ihn anekelt. Das Dasein einer Frau, die die Wange eines Kindes berührt, mit Tränen der Liebe in den Augen. Das Dasein einer Frau auf dem Feld, gebeugt, am Ende ihrer Kräfte, die sich nach der Dunkelheit und einer Ruhepause sehnt. Überwältigt von Liebe und Lust, von Mitleid gepeinigt, von Haß verbrannt, aufgelöst vor Angst, verrückt vor Erregung und Freude …
    Das Dasein des Handelnden und dessen, mit dem etwas geschieht. Der Sprechende und der Zuhörende. Der Darsteller und das Publikum. Alles gleichzeitig. Alles interessant, alles zwingend. Nichts davon unerträglich, und wenn auch nur dank der Vielfalt. Der Schmerz war ein Nadelstich gegenüber einem ganzen Körper voller Erfahrung.
    An diesem Abend sah Trigger Happy Musselman Morris Pitts eindringlich an. »Sie haben die Sache versaut«, schnauzte er ihn an.
    »Das glaube ich nicht«, entgegnete Morris ganz bedächtig.
    Er war verdammt zu sehr von sich überzeugt, fand Trigger Happy, und seine Abneigung gegen ihn war stärker, als die über einsneunzig große, gutaussehende Gestalt und die Jugend rechtfertigten.
    »Irgend etwas hat sich ereignet, seit ich sie gestern getroffen habe und sie heute nachmittag anrief. Gestern hätte ich sie nur zu nehmen brauchen. Heute … irgend etwas hat sich ereignet.«
    »Erzählen Sie mir noch mal alles. Was sie genau gesagt hat, wie sie sich anhörte.«
    Morris zeigte keinerlei Anzeichen von Ungeduld oder Langeweile. Es war das drittemal, daß er seinen Bericht Wort für Wort vortrug, ohne auch nur den Tonfall seiner Stimme zu ändern. »Sie nahm nach dem dritten Läuten ab. Sie hörte sich an, als ob sie sich über etwas große Sorgen machte. Zunächst erinnerte sie sich nicht an mich, erst als ich sie fragte, ob sie die Gärtnerei gefunden und die Pflanzen gekauft hätte, die sie haben wollte. Das brachte sie wieder etwas auf den Boden zurück, jedoch nicht so richtig. Sie sagte ja und dankte mir für den guten Tip, und dann sagte sie, sie müßte jetzt weg, sie hätte noch etwas zu erledigen. Ich unterbrach sie, bevor sie auflegen konnte, und fragte sie, ob ich sie zum Abendessen einladen dürfte. Sie sagte nein, sie hätte zu tun. Wenn ich Lust hätte, könnte ich ja in einer Woche oder so noch mal anrufen. Dann legte sie auf. Sie schaltete den automatischen Anrufbeantworter ein, und der ist seit drei Uhr heute nachmittag an. Ich habe es bis zehn jede halbe Stunde probiert.«
    Er hatte ihr eine Blume geschickt, schloß er seinen Bericht.
    »Eine einzige Blume?«
    »Eine heute. Eine zweite morgen. Übermorgen wieder eine. Jeweils eine reicht, glauben Sie mir.«
    Trigger Happy glaubte ihm, und das machte ihn noch wütender. Als er wieder allein war, stampfte er mit dem Fuß auf, kaute auf seiner Zigarre herum und überdachte noch einmal alles. Die Steele war also in das Bürogebäude gegangen, um dort jemanden zu treffen, das stand fest. Die Topfpflanzen waren ein Vorwand, eine Erklärung dafür, daß sie am Sonntag dorthin ging. Der Sicherheitsbedienstete hatte geschworen, daß außer ihr niemand im siebten Stock gewesen war. Hah! Dieser Komiker konnte seinen Arsch nicht von seinem Ellbogen unterscheiden! Die Begegnung kam zustande. Stritten sie sich? Diese Vorstellung gefiel ihm. Dazu paßten der zerbrochene Topf und der Dreck am Boden. Er stellte sich die Szene bildlich vor. Er