Verscharrt: Thriller (German Edition)
ist keine drei Meter von der Stelle entfernt entstanden, wo sie am Vortag mit Ben und Jamie gesessen hat. Die Jungen und Mädchen zwischen elf und neunzehn Jahren sind auf Bänken, in Imbissen und U-Bahn-Wagen zu sehen, aber größtenteils beim Feiern in einem kargen Raum. Sie teilen sich Starkbier in Flaschen und lassen Joints rumgehen, und die meisten sind auf ziemlich unanständige Weise schön und halbnackt. Die Jungs tragen keine T-Shirts, die Mädchen nur Unterhose und BH , und obwohl ihre Frühreife schockierend wirken soll– ein Junge, der kaum älter sein kann als vierzehn, setzt sich einen Schuss auf dem Klo–, muss man keinen Doktor in irgendeinem Blödsinn haben, um zu wissen, dass die Fotos durchinszeniert sind wie Werbeanzeigen. Kinderpornografie unter dem Deckmantel der Sozialkritik.
Außer ihnen sind noch zwei Paare mittleren Alters in der Galerie. Sie bestaunen ehrfürchtig und schweigend die Arbeiten, als hielten sie die fleckigen Dielen für heiligen Boden. Ben und Jamie führen O’Hara in den zweiten Raum der Galerie und stellen sie vor das größte Bild der Ausstellung, das in der Mitte einer ansonsten leeren Wand hängt. » Das ist Herc « , sagt Ben und nickt in Richtung eines Jungen mit freiem Oberkörper, dessen langes blondes Haar unter einer Baseballkappe der Detroit Tigers herausfließt. Ein Mädchen, ebenfalls blond und nicht viel älter, nur mit einer Unterhose bekleidet, steht hinter ihm. Herc, der das Letzte aus einem so winzigen Joint saugt, dass er sich schon die Fingerspitzen verbrennt, steht im Zentrum des Bildes und starrt direkt in die Kamera. Da Staps 2006 starb, konnte Herc auf dem Bild kaum älter als acht gewesen sein, und seine blasse Haut spannt über dem Bauch und an den Rippen. Er ist dünn, so wie kleine Jungs es oft sind. Aber man kann auch nachvollziehen, weshalb er vom Fotografen und der Galerie diesen Spitzenplatz zugewiesen bekam und warum ihn seine Freunde Herc nannten. So klein und dürr wie er ist, steckt in ihm doch jede Menge Mumm. Er tut, als wäre es kein großes Ding, halbnackt mit einer kleinen blonden Schönheit dort rumzusitzen. Verdammt, so was macht er jeden Tag. Der achtjährige James Cagney hätte keine dreistere Performance hingelegt, und sein Grinsen ist so eindringlich, als wolle er Staps fragen: » Das war’s doch, was du wolltest, oder? «
» Wann hat die Party stattgefunden? « , fragt O’Hara.
» Vergangenen Sommer. In einem leer stehenden Loft in der Bowery, das sich nicht verkaufen ließ. Irgendwie kam Freek über einen Makler an die Schlüssel. Er hat alle möglichen Kids eingeladen, die Schränke mit Alk vollgestellt und überall was von dem Killerstoff rumliegen lassen. Während sich alle damit abgeschossen haben, ist er mit seinem Assistenten rumgegangen und hat Fotos gemacht. Wir wurden eingeladen, nachdem uns einer von seinen Talentscouts im Park beim Skaten gesehen hatte, aber uns war gleich klar, dass er sich nur für Herc interessiert hat. Wir waren ihm zu alt. «
» Hat er euch auch angefasst? « , fragt Jandorek.
» Nein, er wollte nur zugucken « , sagt Ben. » Und Fotos machen. «
» Und sie verkaufen « , sagt Jamie und zeigt auf den roten Punkt unter dem Schild mit dem Titel boy/girl. » Dieselben Talentscouts, die uns zur Party eingeladen haben, haben uns letzten Monat auch zur Ausstellungseröffnung eingeladen. Meinten, wir sollen uns bloß nicht schick machen. Sie wollten, dass wir nach Straße aussehen. Das war echt komisch. Als ich da war, hab ich mir die Preisliste angesehen. Das billigste Bild kostet fünfundzwanzigtausend Dollar. Für Herc und das Mädchen wollen sie achtzigtausend haben. « Die unverschämten Preise erinnern O’Hara erneut an den Prada-Laden. Aus reiner krankhafter Neugier hatte sie wissen wollen, was ein bestimmter Kaschmirmantel kostete. Sie musste vier verschiedene Schildchen befingern, bis sie den Preis gefunden hatte– 4200Dollar stand da in winziger Schrift.
» Wenigstens haben wir jetzt ein Bild « , sagt Jandorek.
» Am liebsten würde ich’s einfach von der Wand reißen und verschwinden, aber ich denke, du bewegst dich als mein Partner sowieso schon auf dünnem Eis. «
» Mach dir um mich keine Sorgen, Dar. Ich kann auf mich aufpassen. Egal, was du vorhast, ich bin dabei. «
Zum ersten Mal seit Tagen lächelt O’Hara. Anstatt das Foto von der Wand zu reißen, geht sie in den vorderen Raum der Galerie zurück. Hinter einer Trennwand steht ein Emaille-Tisch, auf dem
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