Verscharrt: Thriller (German Edition)
sie hatte selbst so ihre Fehler, hey, vielleicht irre ich mich. Vielleicht mochte sie ihn ja wirklich, und ich bin bloß neidisch. Ich war mein ganzes Leben lang auf ihn neidisch. «
KAPITEL 29
Nach dem Essen bleibt O’Hara mit Klinger noch kurz unter der Markise vor dessen riesigem metallicgrauen Lexus stehen.
» Alle drei Jahre besorg ich mir einen neuen. Und lasse eine Darmspiegelung machen. «
» Sol, dann hoffe ich, Sie kommen noch ein halbes Dutzend Mal öfter in den Genuss… von beidem. «
» Darlene. War mir ein Vergnügen. «
Klinger braucht zehn Minuten, um einzusteigen, sich festzuschnallen und auszuparken. Als seine Rücklichter kleiner werden, ist es 17:45, und O’Hara findet das Tageslicht immer noch viel zu grell, um sicher zu steuern. Zwei Blocks weiter befindet sich ein Cineplex mit zwanzig Kinos. Sie hält sich möglichst im Schatten der Häuserwände und läuft über drei menschenleere Straßenzüge zum Kartenschalter, wo ihr wieder einfällt, dass ein Cineplex ein großes Kino mit einer langen Liste an Filmen ist, von denen man keinen einzigen sehen möchte. Aus der Vielfalt an beschissenen Angeboten kommt nur I am Legend um 18:25 Uhr zeitlich hin, aber sie kann sich nicht überwinden, an den Schalter zu treten und Geld rüberzuschieben.
Sei kein Schmock, Darlene, sagt sie sich in Gedanken an Wawrinka, die Klinger imitiert. Kauf dir ein Ticket, kauf dir eine Limo und einen Eimer Popcorn und halte den Ball schön flach, bis die Sonne untergeht. Doch so verlockend zwei salzig-süße Stunden in gekühlter Dunkelheit auch sein mögen, sie kann sich nicht dazu durchringen, elf Dollar aus der Tasche zu ziehen und an Will Smith zu verschwenden. Nicht in diesem Leben. Lieber würde sie sich auf offener Straße ausrauben lassen.
Nebenan befindet sich eine Bar, und als sie eintritt, fragt sie sich, ob der Eigentümer derselbe ist, dem auch das italienische Restaurant gehört. Statt mit alten Filmplakaten sind die Wände mit legendären Sportlern, Athleten und verschiedenen Andenken gepflastert, und alles sieht aus, wie aus demselben Gastrobedarfskatalog bestellt. O’Hara ruft sich in Gedanken noch einmal das wunderbare alte Foto von Levin vor Augen, das ihr Klinger gezeigt hat, und vergleicht es mit dem Galeriebild des noch immer namenlosen Jungen. Levin, der Einwanderer, der in eine Trainingshalle spaziert und lernt, wie man Schläge einsteckt und austeilt, hätte dem Jungen gefallen, der plötzlich im Tompkins Square Park auftaucht, weil er lernen will, wie man einen Joint raucht und mit dem Skateboard springt. Wie hätte es anders sein sollen? Er war eine moderne Version seiner selbst– derselbe Mumm, dieselbe Einstellung. Straßenkind 2.0. Hätte der Alte lieber Schulgeld für ihn anstatt für den Sohn einer Goldgräberin gezahlt, dann wäre das Rennen vielleicht für beide besser ausgegangen.
Sich möglichst lange an einem Bier festzuhalten gehört leider nicht zu O’Haras Talenten. Als ihr leeres Glas auf den Bierdeckel trifft, ist es 18:15 Uhr, und der Gedanke daran, den Abend in dem üblichen Schwebezustand zu verbringen, erscheint ihr noch weniger attraktiv als I Am Legend. Aber sie erinnert sich an das Museum am Flughafen, und dass sie auf dem Weg zu dem Essen mit Klinger an einer Bushaltestelle das Plakat einer Ausstellung mit alten Zirkusfotografien aus der Zeit um die Jahrhundertwende gesehen hat. Sie ruft von ihrem Barhocker aus im Museum an und erfährt, dass donnerstags bis 20 Uhr geöffnet ist.
Zwanzig Minuten später überreicht ihr ein älterer ehrenamtlicher Mitarbeiter eine Anstecknadel und eine Broschüre und weist ihr den Weg zu den beiden Räumen, die der Fotografie von Frederick Whitman Glasier gewidmet sind. Laut Infomaterial war Glasier ein gescheiterter Juwelier, der 1901 ein Portraitstudio in Brockton, Massachusetts eröffnet hat. Zwei Jahre später kam der Barnum & Bailey Circus nach Brockton, und die darauffolgenden dreißig Jahre fungierte Glasier als halboffizieller Hausfotograf in dessen Aufstieg. » Meiner Meinung nach « , sagt die Frau am Empfangsschalter, » ist er besser als Ansel Adams. Und wussten Sie schon, dass alle seine Bilder auf Glasplatten entstanden sind, also auf dem Kopf stehend komponiert wurden? «
In ihrer Glanzzeit tourten Zirkuskompanien jährlich durch 150 Städte und Ortschaften. Sie fuhren mit Privatzügen in die Bahnhöfe ein, und die gesamte Stadt sah zu, wenn die Tiere und Artisten zum Jahrmarktgelände paradierten, wo die
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