Verscharrt: Thriller (German Edition)
Mannschaft innerhalb von sechs Stunden Vorschlaghämmer schwingend ein 12 000 Menschen fassendes Zelt aufbaute. Glasier fängt das Spektakel in wunderschön komponierten Aufnahmen ein, aber O’Hara beeindrucken vor allem seine Porträts, denen Ausschnitte aus Barnums Originaltexten beigefügt sind. Da sind die Akrobatenschwestern Hugony, ein » Wunder an Kraft und Agilität « , und die Marvells, Schlangenmenschen, » die tänzerische Kuriositäten und wunderliche Verrenkungen mit komischen Einlagen « präsentierten. Da sind die Upside Down Bros., die kopfüber Treppen steigen konnten, und die Kimball Twins mit ihrem Stahlgebiss, die nur an den Zähnen hängend durch die Luft flogen und dabei » hieb- und bissfest « ihren Wagemut unter Beweis stellten. O’Hara nimmt wohlwollend zur Kenntnis, dass keine dieser Turnerinnen, Schlangenmenschen oder Luftakrobatinnen dünn ist. Alle haben sie Ärsche, Titten und Oberschenkel, die sie stolz in hautengen Kostümen präsentieren, die auch ein Jahrhundert später noch ungeniert erotisch wirken. Die Bilder dieser unerschrockenen jungen Frauen erinnern O’Hara an ihren Besuch in Coney Island und ihre Unterhaltung mit Jennifer Miller, der bärtigen Frau, die einst regelmäßig in der Sideshow auftrat. Als O’Hara Miller fragte, weshalb sie ihren Bart nie abrasiert hatte, erwiderte die, sie habe nicht klein beigeben wollen. Sie sei eine leidenschaftliche Feministin gewesen, so wie nur Teenager dies sein können, und sie habe gerade ihr Coming-out als Lesbe erlebt und nicht begriffen, weshalb sie sich rasieren sollte. Miller musste einen biblischen Preis für ihren Bart zahlen. Durch ihn wurde sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt, und nur aufgrund ihres Barts galt diese intelligente Frau auf dem Arbeitsmarkt als nicht vermittelbar. Mag sein, dass sie verrückt ist, weil sie daran festhält, aber Gott sei Dank, denkt O’Hara, gibt es noch junge Frauen mit Eiern in der Hose. Und vielleicht, denkt sie, hat dieser kleine Coney Island-Lude auch nicht ganz unrecht gehabt, als er davon faselte, wie wichtig es ist, die Ikonografie zu kennen, an der man unweigerlich gemessen wird. Diese Zirkusartistinnen gehörten ganz eindeutig zu den ersten Feministinnen, und wenn niemand mehr bereit ist, als Freak dazustehen, wird sich niemals etwas ändern. Ohne Freaks gäbe es wahrscheinlich bis heute keine Frauen bei der Mordkommission.
Ein Bild, dem ein besonders prominenter Platz im Raum zugewiesen wurde, zeigt eine junge Luftakrobatin namens Maude Banvard, die 1907 hoch über das Jahrmarktgelände von Brockton fliegt. O’Hara sieht, dass es keinen grundlegenden Unterschied zwischen ihr und dem siebzehnjährigen Benjamin Levin gibt, der 1937 in der verrauchten St. Nichols Arena in den Ring steigt, oder Axl Rose O’Hara, der vergangene Woche mit den Flat Screens die Bühne des Ukrainian-Centers betrat. Wie Klinger über seinen alten Freund gesagt hat, geht es nicht ums Geld, sondern darum, sich selbst und seinen Freunden etwas zu beweisen. Irgendwann haben sich alle diese jungen Menschen entschieden, für die besonderen Momente im Leben zu kämpfen, und sie ließen sich auch nicht davon abbringen, weil die äußeren Umstände dagegen sprachen oder sich ihre Mütter Sorgen machten, oder die Hälfte der Menschheit der Meinung war, dass sie sich durch den bloßen Versuch schon zu Schmocks machten.
O’Hara steht wie gebannt vor dem Foto, als ein anderer alter Ehrenamtlicher– anscheinend wimmelt es in der Stadt nur so von alten Menschen, die bereit sind, umsonst zu arbeiten, denkt sie– ihr auf die Schulter tippt und sagt, dass das Museum gleich schließt. Auf dem Weg nach draußen durchquert O’Hara einen mit alter Kunst behängten Saal nach dem anderen, darunter unzählige Madonnen mit Kind und sogar ein vermeintlich echter Rembrandt und ein Rubens. Ringling, denkt O’Hara, hat hier wohl ein bisschen überkompensiert, unbedingt Klasse zeigen und sich von seinem alten Mitstreiter Barnum und der » Greatest Show on Earth « distanzieren wollen.
KAPITEL 30
Als O’Hara das Museum verlässt, ist es noch lächerlich früh, aber sie hat beschlossen, es für heute gut sein zu lassen, noch ein paar Bier zu holen und sich damit ins Marriott zu verziehen, wo sie die Jalousien runterlassen und über mögliche Szenarien nachdenken will, die eine Verbindung zwischen einem alten Ausnahmeboxer aus South Newark und einem frühreifen Straßenkind aus dem East Village plausibel erscheinen lassen.
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