Verschieden - ein Mira-Valensky-Krimi
Schnecke und spiele mich als Moralapostelin auf, höre mich schrecklich an. Ich weiß ja, dass er bloß das geliefert hat, was der Chefredakteur will – vielleicht etwas ungeschickt, aber doch bemüht. Woher hat er bloß die Liste sexueller Perversionen? Kotesser. Mir wird gleich übel.
Ich könnte Zuckerbrot noch anrufen, er arbeitet gut und diskret. Und was, wenn er seine Leute nicht ganz unter Kontrolle hat? Habe ich schon erlebt.
Ich schreibe einen Zettel, den ich ganz unten in meine oberste Schreibtischschublade lege: »Für Oskar. Ich liebe dich. Und falls mir etwas zustößt, denke daran: So wird es immer bleiben.« Ganz schön melodramatisch, aber heute Abend werde ich den Zettel ohnehin wieder herausholen und in kleine Schnipsel zerreißen. Oder spätestens morgen früh. Und dann werde ich auch wissen, wer mir die anonymen Briefe geschrieben hat. Bruno … der ist deutlich kräftiger als ich. Aber was sollte er für einen Grund haben, mich hinunterzustoßen? Gekränkter männlicher Stolz?
Eine SMS von Vesna: »Bin im Steinbruch, alles ruhig und okay.«
Ich fahre los. Wir haben beschlossen, lieber nicht mehr miteinander zu telefonieren. Vesna hat den Bus ins Niemandsland südlich von Wien genommen, soll mit einer Kamera im Gebüsch bei der obersten Kehre warten und nur dann eingreifen, wenn es sich nicht vermeiden lässt.
Ich biege von der Landesstraße Richtung Steinbruch ab und versuche zu erkennen, ob da noch jemand ist. Eine Brille wäre jetzt tatsächlich nicht schlecht. Oder noch besser ein gutes Fernglas. Kann man sich so etwas zur Hochzeit wünschen?
Ich gebe zu, jetzt würde ich am liebsten wieder umdrehen. Ist doch alles Wahnsinn. Ich kann meine netten Reportagen schreiben, wenn ich will, sogar Seriöses über Terrorismus, böse Fundis und böse Amerikaner, aber das ist alles so weit weg. In sechs Tagen feiern wir ein großartiges Gartenfest. Sogar das Wetter soll schön bleiben, warum also nicht heiraten?
Heute knallt die Sonne auf den Steinbruch, die braun-grauen Felsblöcke wirken beinahe weiß, weiß und heiß, denke ich, während ich trotz allem weiterfahre. Jetzt nehme ich die Sackgasse, die den Steinbruch hinaufführt. Eine Kehre, die zweite Kehre. Ich schraube mich nach oben, zu weit nach oben, um noch fallen zu dürfen. Am Horizont sehe ich Weinhügel und eine Kirche. Was ist das für ein Ort? Ich sollte es wissen. Auf der anderen Seite verschwommen die Hochhäuser, die aus einem dunstverschmolzenen Wien herauszuwachsen scheinen.
Ist Vesna wirklich da? Ich sehe nichts. Soll ich auch nicht. Ich spüre sie nicht. Kann man einen anderen Menschen wirklich spüren? Jedenfalls wäre es mir momentan sehr recht, aber da ist nichts. Nur mein Atem. Einige magere Büsche auch bei der zweiten Kehre. Hinter jedem kann einer lauern. Wer sagt, dass es nur einer ist? Sie könnten zu zweit sein. Gerda und Peter, die alles geschickt geplant haben. Hier war es, hier soll ich stehen bleiben. Ich parke das Auto und sehe nach oben. Von dort könnte man Steine auf mich werfen. Was soll das Ganze bringen? Doch dann atme ich durch und steige aus. Vorsichtig. Ich bleibe ganz nahe am Felsen. Irgendwo da hat man Dr. Hofer dagegengeschleudert. Mikroskopische Blutspuren, die kein Regen abwaschen kann. Wie tief geht es nach unten? Ich will es nicht wissen und rechne trotzdem. Zehn, zwanzig, dreißig Meter. Beinahe senkrecht. Und voller spitzer Steine. Eine neue SMS. Ich muss sie ansehen, aber ich muss auch wachsam bleiben. Ich schrecke zusammen. Da war ein Geräusch. Aber es ist nur ein Vogel, der aufflattert.
»Ist da jemand?«, sage ich halblaut. Es klingt wie Krächzen.
Plötzlich eine Lawine, eine Steinlawine von oben, ich drücke mich an den Felsen, die Lawine geht ein Stück neben mir nieder, ich merke, dass meine rechte Handfläche blutet, aber nur, weil ich die Hand zu fest um einen Stein gekrallt habe. Es war eine Falle, doch man hat mich ein Stückchen weiter links vermutet, ich habe Glück gehabt, ich höre ein Keuchen. Vesna. Ich hätte sie oben nicht allein lassen dürfen. Sie hätte bloß fotografieren sollen. Vielleicht hat sie geglaubt, die Steine, ich bin … Ich springe ins Auto, ein zweites Mal lasse ich sie nicht im Stich, ich will die Kehre nach oben rasen, verdammt noch einmal, fast säuft mir das Auto ab, von Rasen keinen Spur, ich muss in den zweiten Gang zurückschalten, dann in den ersten.
Ein Mann auf einem Mountainbike, Vesna will ihm nach, ihr ist nichts geschehen, ich stelle mein
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