Verschlossen und verriegelt
erkannt hatte, wie ihre Tage bereits vergingen, als sie noch das Bett verlassen und im Rollstuhl sitzen konnte und bei seinen Besuchen fröhlich und geistig rege wirkte.
Um sieben Uhr morgens wurde sie gewaschen und angezogen, in den Rollstuhl gesetzt und bekam ihr Frühstück. Anschließend saß sie allein in ihrem Zimmer, Radio konnte sie nicht mehr hören, weil ihre Ohren zu schlecht geworden waren, das Lesen war mittlerweile auch zu anstrengend, und ihre schwachen Hände hatten nicht mehr die Kraft, Handarbeitszeug zu halten. Um zwölf bekam sie Mittagessen, und um drei beendeten die Krankenpflegerinnen ihren Arbeitstag damit, sie auszuziehen und ins Bett zu legen. Später bekam sie noch ein leichtes Abendessen, aber sie litt unter Appetitlosigkeit und brachte nichts herunter. Einmal hatte sie ihm erzählt, das Personal schimpfe mit ihr, weil sie nicht esse, aber das mache ihr nichts aus, weil es wenigstens bedeute, dass jemand zu ihr komme und mit ihr rede.
Martin Beck wusste, dass der Personalmangel im Altersheim ein großes Problem war, vor allem war es schwierig, Krankenschwestern und Pfleger für die Krankenstation zu bekommen. Er wusste auch, dass das vorhandene Personal die alten Menschen freundlich und fürsorglich behandelte und trotz miserabler Bezahlung und ungünstiger Arbeitszeiten sein Bestes gab. Er hatte oft darüber nachgedacht, wie er ihr Leben erträglicher gestalten konnte, ob er sie etwa in ein privates Krankenheim verlegen lassen sollte, wo man ihr mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmen würde, aber er hatte schon bald einsehen müssen, dass sie kaum besser gepflegt werden konnte als dort, wo sie war. Ihm blieb nur, sie möglichst oft zu besuchen. Während er die Möglichkeiten untersuchte, die Situation seiner Mutter zu verbessern, hatte er nämlich herausgefunden, um wie viel schlechter es vielen anderen alten Menschen erging. Arm, einsam und hilfsbedürftig alt zu werden bedeutete, dass man nach einem langen aktiven Leben plötzlich seiner Würde und Identität beraubt und dazu verurteilt wurde, in einer Anstalt auf sein Ende zu warten, gemeinsam mit anderen, ebenso ausgestoßenen und gebrochenen Greisen.
Die Anstalten wurden nicht so genannt, sie hießen nicht einmal mehr Altersheim. Heute durften sie sich Seniorenheim oder sogar Seniorenhotel nennen, um die Tatsache zu übertünchen, dass die meisten alten Leute nicht aus freien Stücken darin wohnten, sondern von einem sogenannten Wohlfahrtsstaat, der nichts mehr von ihnen wissen wollte, einfach zu dieser Anstaltspflege verurteilt wurden.
Das Urteil war hart, und das Vergehen bestand darin, zu alt zu werden. Man war ein abgenutztes Rädchen in der Gesell-Schaftsmaschinerie und konnte auf den Müllhaufen geworfen werden.
Martin Beck erkannte, dass seine Mutter es trotz allem besser hatte als die meisten anderen kranken alten Menschen. Sie hatte gespart und Geld auf die hohe Kante gelegt, um für ihr Alter vorzusorgen und niemandem zur Last zu fallen. Obwohl der Wert des Geldes durch die Inflation katastrophal gesunken war, bekam sie immerhin ärztliche Hilfe, relativ nahrhaftes Essen, und in dem großen und hellen Krankenzimmer, das sie sich mit niemandem teilen musste, war sie von ihren eigenen alten, vertrauten Dingen umgeben. Das konnte sie sich von ihren Ersparnissen noch kaufen.
Die Hose war in der Sonne schnell getrocknet und der Fleck fast völlig verschwunden. Martin Beck zog sich an und rief ein Taxi.
Der Park um das Altersheim war groß und gepflegt, mit hohen Laubbäumen und verschlungenen schattigen, kühlen Wegen zwischen Lauben, Beeten und Terrassen. Bevor Martin Becks Mutter krank wurde, war sie dort immer gern Arm in Arm mit ihm spazieren gegangen.
Martin Beck ging direkt zum Schwesternzimmer, traf dort aber weder Schwester Birgit noch sonst jemanden an. Im Korridor begegnete er einer Schwesternhelferin, die ein Tablett mit Thermoskannen trug. Er fragte nach Schwester Birgit, und als die Helferin ihm in singendem Finnlandschwedisch mitteilte, dass Schwester Birgit bei einem Patienten sei, erkundigte er sich nach Frau Becks Zimmer. Die Schwesternhelferin nickte zu einer Tür weiter hinten im Flur und setzte ihren Weg mit dem Tablett fort.
MartinBeck öffnete die Tür einen Spalt. Das Zimmer war kleiner als das, in dem seine Mutter vorher gelegen hatte, und erinnerte stärker an ein Krankenzimmer. Alles darin war weiß, außer dem Strauß roter Tulpen, den er ihr zwei Tage zuvor geschenkt hatte und der nun auf einem
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