Verschlüsselte Wahrheit - Inspektor Rebus 05
Wohnzimmer. Dann sah er, dass in der Küche Sanitäter waren, und ging hinein. Auf dem Fußboden lag jemand mit dick verbundenem Gesicht und eingewickelten Händen. Er sah jedoch kein Blut. Beinah wäre er auf dem nassen Linoleumboden ausgerutscht, konnte sich aber gerade noch an der Kante eines uralten Gasherds, der sich warm anfühlte, festhalten. Ein Constable stand an der offenen Hintertür und blickte nach rechts und links. Rebus ging vorsichtig an den Sanitätern und ihrem Patienten vorbei und stellte sich zu dem Constable.
»Schöner Tag, was?«
»Wie bitte?«
»Ich dachte, Sie freuen sich über das Wetter.« Rebus zeigte erneut seinen Ausweis.
»Ganz und gar nicht. Ich schau nur, wo er hin ist.«
Rebus nickte. »Was soll das heißen?«
»Die Nachbarn sagen, er ist über drei Zäune geklettert, dann über einen Hof gelaufen — und weg war er.« Der Constable wies mit dem Finger in eine bestimmte Richtung. »Der Hof da drüben, gleich hinter der vollen Wäscheleine.«
»Hinter der Leine mit der Stütze?«
»Aye, dort muss es sein. Drei Zäune … eins, zwei, drei. Es muss der Hof da drüben sein.«
»Gut gemacht, mein Junge, das hilft uns wirklich weiter.«
Der Constable starrte ihn an. »Mein Inspector ist ziemlich pingelig mit den Notizen. Sie sind von St. Leonard’s? Dann ist das ja eigentlich nicht Ihr Revier, Sir?«
»Mein Revier ist überall, und jeder ist mein Constable. Also, was war hier los?«
»Der Mann auf dem Boden wurde angegriffen, und der Täter ist geflüchtet.«
Rebus nickte. »Ich kann Ihnen auch schon sagen, wie es passiert ist und wer es war.« Der Constable wirkte skeptisch. »Der Täter war ein Mann Namens Alex Maclean, und höchstwahrscheinlich hat er Mr McPhail da unten mit der Faust bearbeitet oder ihm einen Kopfstoß versetzt.«
Der Constable blinzelte, dann schüttelte er den Kopf. »Der da liegt, ist Maclean.« Rebus blickte nach unten und bemerkte erst jetzt, dass der Mann gut vierzig Pfund schwerer war als McPhail. »Und er hat weder einen Schlag noch einen Kopfstoß verpasst bekommen, sondern einen Topf kochendes Wasser über die Birne gekriegt.«
Nur leicht beschämt, aber ohne jeden Kommentar, hörte sich Rebus die Version des Constable von den Ereignissen an. McPhail, der dem Haus die ganze Zeit fern geblieben war, hatte schließlich angerufen, um zu sagen, er käme kurz vorbei, um ein paar Kleidungsstücke und sonstige Dinge zu holen. Er hatte Mrs MacKenzie irgendeine Geschichte erzählt, dass er die Spätschicht in einem Supermarkt machte. Er war gekommen und unterhielt sich in der Küche mit seiner Vermieterin, die gerade Wasser aufgesetzt hatte, um Eier zu kochen. (Jeden Mittwoch gab es gekochte Eier zum Mittagessen, donnerstags pochierte — auf diesen Teil ihrer Aussage legte Mrs MacKenzie besonderen Nachdruck.) Doch Maclean hatte das Haus beobachtet und McPhail hineingehen sehen. Er stieß die unverschlossene Haustür auf und rannte in die Küche. »Ein Furcht erregender Anblick«, wie Mrs MacKenzie meinte. »Das werde ich niemals vergessen, selbst wenn ich hundert Jahre alt werde.«
Im gleichen Augenblick hatte McPhail den Topf vom Herd gerissen, kurz ausgeholt und Maclean die Ladung kochendes Wasser übergegossen. Dann öffnete er die Hintertür und floh. Über drei Zäune und einen Hof. Ende des Melodrams.
Rebus beobachtete, wie man Maclean in den Krankenwagen schob. Sie würden ihn ins Royal Infirmary bringen. Allmählich lag fast jeder, den Rebus in Edinburgh kannte, in diesem Krankenhaus. McPhail hatte diesmal noch Glück gehabt. Wenn er wusste, was für ihn gut war, würde er Rebus’ Rat befolgen und die Stadt verlassen. Außerdem konnte er sich so dem Zugriff der Polizei entziehen, die ganz sicher nach ihm fahnden würde.
Rebus zweifelte jedoch daran, dass McPhail wusste, was für ihn gut war. Schließlich glaubte dieser Mann, dass kleine Mädchen gut für ihn wären. Solche Gedanken beschäftigten ihn, während er im regen Mittagsverkehr Richtung St. Leonard’s kroch. Auf dem Weg nach Broughton war er so langsam vorangekommen, dass er dachte, es wäre besser, sich an die größeren Straßen zu halten; Leith Street, The Bridges und Nicolson Street. Irgendwas veranlasste ihn, auf dieser Straße zu bleiben, bis er zu der Metzgerei kam, in der Rory Kintoul blutend neben der Fleischtheke gelandet war.
Nur wenig überrascht nahm er die Holztafel zur Kenntnis, die über dem gesamten Schaufenster des Ladens hing. Darauf war ein großes weißes
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