Verschlüsselte Wahrheit - Inspektor Rebus 05
Gardinenpredigt.
Doch Rebus hatte die Situation völlig falsch eingeschätzt.
»Was, zum Teufel, denken Sie sich eigentlich?« Watson sah aus, als wäre er einen halben Marathon gelaufen und hätte dabei Chilischoten gegessen. Sein Atem ging keuchend, und seine Wangen hatten die Farbe dunkler Kirschen angenommen. Wenn er jetzt so in einem Krankenhaus erschienen wäre, hätte man ihn im Laufschritt auf einer Rolltrage in die Notaufnahme geschafft.
»Mir ist nicht ganz klar, was Sie meinen, Sir.«
Watson hämmerte mit der Faust auf den Schreibtisch. Ein Bleistift fiel zu Boden. »Ihnen ist also nicht ganz klar, was ich meine!«
Rebus bückte sich, um den Bleistift aufzuheben.
»Lassen Sie ihn liegen! Und setzen Sie sich.« Rebus nahm Platz. »Nein, bleiben Sie lieber stehen.« Rebus stand auf. »Und jetzt sagen Sie mir einfach, warum.« Rebus musste an einen Physiklehrer auf dem Gymnasium denken, einen jähzornigen Mann, der genau so mit dem jungen Rebus gesprochen hatte. »Sag mir einfach, warum.«
»Ja, Sir.«
»Nun sagen Sie schon.«
»Bei allem Respekt, Sir, warum was?«
Die Worte kamen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Warum Sie es für nötig befinden, Broderick Gibson zu belästigen.«
»Bei allem Respekt, Sir …«
»Hören Sie mit dem ›bei allem Respekt‹-Scheiß auf! Beantworten Sie einfach meine Frage.«
»Ich belästige Broderick Gibson nicht, Sir.« »Was tun Sie denn dann, ihm den Hof machen? Der Chief Constable hat mich heute Morgen angerufen. Er hatte eine verdammte Scheißwut!« Watson, der gläubiger Christ war, fluchte selten. Das war ein schlechtes Zeichen.
Nun war Rebus alles klar. Die Party zugunsten des Kinderschutzbunds. Ja, und dort hat sich Boderick Gibson seinen Freund, den Chief Constable, geschnappt. Einer deiner Lakaien ist mir auf die Pelle gerückt, was soll denn das? Und der Chief Constable, der von nichts wusste, hatte gestottert und gestammelt und gesagt, er würde der Sache auf den Grund gehen. Gib mir doch mal den Namen von dem Beamten …
»Ich interessiere mich lediglich für seinen Sohn, Sir.«
»Aber Sie haben heute Morgen über beide Informationen im Computer abgerufen.«
Also hatte doch jemand sein Tun am frühen Morgen bemerkt. »Ja, das stimmt, aber eigentlich interessiert mich nur Aengus.«
»Sie haben immer noch nicht erklärt, warum.« »Nein, Sir. Nun ja, es ist noch ein bisschen … nebulös.« Watson runzelte die Stirn. »Nebulös? Wann ist denn die Examensfeier?« Rebus begriff nicht. »Da Sie doch gerade einen Abschluss in Astronomie erworben haben!«, erklärte ihm Watson. Er schenkte sich Kaffee aus der Maschine auf dem Fußboden ein, bot jedoch Rebus, der gerade jetzt eine Tasse hätte gebrauchen können, keinen an.
»Es war das erste Wort, das mir in den Sinn kam, Sir«, sagte er.
»Mir fallen auch ein paar Worte dazu ein, Rebus, die Ihre Mutter bestimmt nicht gerne hören würde.«
Nein, dachte Rebus, und deine auch nicht.
Der Chief Super schlürfte seinen Kaffee. Er hatte nicht umsonst den Spitznamen »Farmer«. Einige seiner Angewohnheiten und Vorlieben konnte man nur als rustikal bezeichnen.
»Doch bevor ich sie Ihnen an den Kopf werfe«, fuhr er fort, »werde ich mich als großmütig erweisen und mir Ihre Erklärung anhören. Aber sehen Sie zu, dass sie mich überzeugt.«
»Ja, Sir«, sagte Rebus. Doch wie sollte er dies bewerkstelligen? Er musste es wohl oder übel versuchen.
Also versuchte er es, und ungefähr auf der Hälfte seiner Ausführungen erlaubte Watson ihm sogar, sich zu setzen. Nach fünfzehn Minuten breitete Rebus die Arme aus, so als wollte er sagen: Das ist alles, Leute.
Watson schenkte eine weitere Tasse Kaffee ein und stellte sie vor Rebus auf den Schreibtisch.
»Danke, Sir.« Rebus stürzte das Gebräu schwarz hinunter.
»John, ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass Sie paranoid sein könnten?«
»Ständig, Sir. Sie brauchten mir nur zwei Männer zu zeigen, die sich die Hand schütteln, und ich beweise Ihnen, dass eine Freimaurerverschwörung im Gange ist.«
Watson hätte beinah gelächelt, doch dann erinnerte er sich, dass dies keine spaßige Angelegenheit war. »Also, lassen Sie es mich mal so formulieren. Was wir bisher haben, ist … nun ja, es ist …«
»Nebulös, Sir?«
»Pisse im Wind«, korrigierte Watson. »Irgendwer ist vor fünf Jahren gestorben. War es jemand Wichtiges? Anscheinend nicht, sonst wüssten wir längst, wer es war. Also denken wir, dass es jemand war, den kaum einer
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