Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
mehreren Versuchen blieb sie, wo sie war, die Kleider gegen die Brust gedrückt, und starrte auf den Riegel.
Wieso funktionierte er nicht? Das Schlafzimmer ließ sich doch auch abschließen, warum dann nicht das Bad? Das war doch lächerlich, hier stimmte etwas nicht. Es musste sich einfach abschließen lassen. Doch egal, was sie mit dem Riegel veranstaltete – er hielt einfach nicht.
»Ich muss diese Tür nicht abschließen. Niemand hat letzte Nacht hier eingebrochen und mich im Schlaf ermordet. Und heute Morgen wird auch niemand einbrechen. Brody schläft auf der anderen Seite des Flurs. Ich muss bloß drei Minuten duschen, mehr nicht. Rein und wieder raus. Kein Grund zur Sorge.«
Sein Bad war doppelt so groß wie das ihre und besaß eine weiße Standard-Duschwanne. Die dunkelblauen Handtücher passten nicht wirklich zu dem grün gesprenkelten Muster des Waschtischs. Trotzdem war weit und breit nichts Dekoratives in Sicht, nichts Ungewöhnliches. Sie ließ die Tür nicht aus den Augen, während sie einen Schritt zurück machte, um den Hahn aufzudrehen.
Sie mochte die polierten, versiegelten Holzbalkenwände, die Fliesen, die wie Schiefer aussahen. Er hätte graue Handtücher nehmen sollen, dachte sie, oder versuchen sollen, welche in dem Grün des Waschtischs zu finden.
Sie versuchte sich darauf zu konzentrieren, auf die Schlichtheit dieses Bads – schöne Chromarmaturen, ein hässlicher beiger Duschvorhang, während sie rückwärts die Dusche betrat.
Sie griff nach der Seife und ging im Kopf das Einmaleins durch. Die Seife entglitt ihr, als es an der Tür klopfte.
Psychopathen klopfen nicht an, beruhigte sie sich. »Brody?«
»Erwartest du sonst noch jemanden?« Er öffnete die Tür und zog kurz darauf den Duschvorhang ein paar Zentimeter zur Seite. Er war splitterfasernackt. »Was interessiert es dich, wie viel acht mal acht macht, wenn du gerade beim Duschen bist?« »Weil ich es langweilig finde, unter der Dusche zu singen.« Sie überlegte, was sie mit ihren Händen anstellen sollte, ohne sich allzu offensichtlich damit zu bedecken. »Ich bin gleich fertig.«
»Ich glaube, ich habe gestern Nacht alles gesehen, was zu sehen ist – oder macht dich das Wasser plötzlich schüchtern?«
»Nein.« Sie zwang sich, eine Hand sinken zu lassen, und hob die andere, beließ sie aber als geballte Faust vor der Brust.
Brody ignorierte die Nässe und den Dampf, langte nach ihr und zog ihre Hand herunter. Und als diese wieder nach oben schnellte, hob er die Brauen hoch und zog die Hand mit noch mehr Nachdruck nach unten.
Er warf einen Blick auf die Narbe, die sie zu verbergen suchte. »Das war aber knapp.«
»Das kann man wohl sagen.« Sie versuchte, sich abzuwenden, was er vereitelte, indem er ihre Hand nur noch fester umfasste und zu ihr in die Dusche stieg.
»Schämst du dich wegen deiner Narbe, weil sie dich weniger perfekt macht?«
»Nein. Vielleicht. Ich finde sie bloß nicht …«
»Du hast nämlich noch genügend andere Schwächen, weißt du. Knochige Hüften zum Beispiel.«
»Ach ja?«
»Ja, und jetzt wo deine Haare nass sind, sehe ich erst, dass deine Ohren nicht wirklich parallel sind.«
»Aber natürlich sind sie das.« Sie wollte instinktiv nach oben greifen, doch er ging dazwischen und umarmte sie.
»Doch ansonsten bist du gar nicht so übel. Deshalb habe ich auch keinerlei Problem damit, mich an dir zu vergreifen.«
Er drückte sie gegen die Wand der Duschkabine und ließ seinen Worten Taten folgen.
16
Dieser Mai war alles andere als ein Wonnemonat. Angel’s Fist wurde von einer Serie böser Stürme heimgesucht, die über die Berge brausten und wie wild über den See fegten. Aber die Tage wurden länger, während das Licht langsam die Oberhand über die Dunkelheit gewann. Reece konnte sehen, wie der Schnee auf den unteren Berggraten schmolz, während die Pappeln und Weiden in ihrem kleinen Tal ausschlugen.
Gelbe Narzissenknospen sprossen hervor und trotzten Wind und Regen. Genau wie sie. Sie war ganz schön zerzaust und durchnässt worden. Aber sie stand kurz davor, neu zu erblühen.
Und an diesem denkwürdigen Tag würde sie sich aus Angel’s Fist herauswagen.
Für die meisten Frauen ist ein Friseurbesuch etwas vollkommen Alltägliches. Für Reece hielt er die Aufregung und den Schrecken eines Fallschirmsprungs bereit. Und wie jeder unerfahrene Springer klammerte sie sich an den Lukenrahmen.
»Ich kann den Termin absagen«, erklärte sie Joanie. »Wenn du heute sehr im
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