Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
und bis dahin will ich dir ausnahmsweise glauben, dass es keine andere gibt, Lo. Ich wüsste nicht, warum du mich derart verletzen solltest. Lass mich nicht alt aussehen.«
»Das könnte ich gar nicht.« Er packte sie an den Handgelenken und zog sie an sich, um sie auf den Mund zu küssen. »Selbst wenn ich es wollte.«
»Ich war gerade dabei, mir eine Pizza zu machen«, verkündete sie. »Ich mag Pizza, wenn ich traurig und wütend bin. Ehrlich gesagt, kann ich in jeder Stimmung Pizza essen. Du darfst Pizza mit mir essen, Lo, aber mehr läuft nicht. Wenn ich bis Samstagabend warten muss, bis ich die Wahrheit erfahre, wirst du wohl oder übel auch so lange warten müssen, bis wir wieder Sex haben.«
»Das ist nur fair, denke ich. Schmerzhaft, aber fair.« Er erhob sich und griff nach ihrer Hand. »Hast du auch ein Bier zu der Pizza?«
Er näherte sich im Schutz der Dunkelheit, kämpfte gegen den Wind an. Ihre Absätze klapperten auf dem festgestampften Weg. Konnte er sie hören? Sie hörte nichts außer dem Wind und dem Fluss, wusste aber, dass er hinter ihr her war, ihr folgte wie ein Schatten, der näher und näher kam. Schon bald würde sie seinen Atem im Nacken spüren, schon bald würde er ihr die Kehle zudrücken.
Sie hatte vollkommen die Orientierung verloren. Wie war sie bloß hierher gekommen? Ihr blieb keine andere Wahl, als einfach weiterzulaufen, immer höher, während ihre Beine vor Anstrengung schmerzten.
Der Mond erhellte die Biegung des Wanderwegs, die rauen Felsen, das gefährliche, hypnotische Glitzern des Flusses unter ihr. Er wies ihr die Richtung, aber der Weg bot ihr keinerlei Fluchtmöglichkeiten. Der Mond würde ihn zu ihr führen.
Sie riskierte einen Blick zurück und sah nichts außer dem Himmel und dem Canyon. Sie schluchzte erleichtert auf. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihm zu entkommen. Sie musste einfach nur weiterlaufen, weiterrennen, dann würde sie den Heimweg schon finden. Und wieder in Sicherheit sein.
Doch als sie dem Weg folgte, vorwärtsstolperte, stand er plötzlich vor ihr und versperrte ihr den Weg. Sie konnte sein Gesicht nach wie vor nicht erkennen, wusste nicht, wen sie vor sich hatte.
»Wer sind Sie?«, schrie sie gegen den Wind an. »Wer zum Teufel sind Sie?«
Während er auf sie zukam und seine behandschuhten Finger abwechselnd krümmte und streckte, traf sie eine Entscheidung. Sie sprang.
Der Wind schlug ihr ins Gesicht. Sie war wieder in der Küche, im Maneo’s. Eine Tür wurde aufgestoßen, ein weiterer gesichtsloser Mann stand vor ihr, diesmal trug er ein Kapuzenshirt. Der Knall einer Pistole. Der explodierende Schmerz – die Wucht der Kugel, die Wucht des Wassers.
Der Fluss verschlang sie, die Vorratskammertür fiel zu.
Und es gab keinerlei Licht mehr, keinerlei Luft. Keinerlei Leben.
Sie wachte davon auf, dass Brody ihre Arme festhielt.
»Wach auf«, befahl er ihr. »Sofort.«
»Ich bin gesprungen.«
»In Wirklichkeit bist du aus dem Bett gefallen.«
»Ich bin tot.«
Ihre Haut war schweißnass, und auch sein eigenes Herz setzte noch mehrere Schläge aus. »Ich finde, du siehst ziemlich lebendig aus. Ein böser Traum, mehr nicht. Du hast dich ganz schön gewehrt.«
»Ich … wie bitte?«
»Hast um dich getreten, deine Krallen ausgefahren. Los komm, hoch mit dir.«
»Warte. Warte einen Moment.« Sie musste sich erst wieder klarmachen, wo sie war. Der Traum stand ihr noch immer mit schrecklicher Klarheit vor Augen, jedes Detail. Bis sie die Wasseroberfläche berührt beziehungsweise in die Vorratskammer gefallen war. »Ich bin gerannt«, sagte sie langsam. »Und er war da. Ich bin gesprungen. In den Fluss. Aber dann hat sich alles miteinander vermischt. Ich bin in den Fluss gestürzt und gleichzeitig in die Vorratskammer des Maneo’s. Aber ich bin nicht untergegangen.« Sie presste eine Hand auf seine Brust, spürte die Wärme seiner Haut. »Ich habe mich nicht einfach in mein Schicksal gefügt.«
»Nein. Ich würde sagen, du hast dich wieder hochgekämpft. Du hast versucht, zu schwimmen.«
»Gut. Das wurde aber auch höchste Zeit!«
27
Das tägliche frühe Aufstehen bescherte Brody ganz neue Erfahrungen. Er sah mehr Sonnenaufgänge, und einige waren es durchaus wert, dass man versuchte, krampfhaft die Augen offen zu halten. Auch mit seinem Roman kam er besser voran, was sowohl seine Agentin als auch seinen Verleger freuen würde. Und er hatte mehr Zeit, sich mit seiner Hütte zu beschäftigen und die ein oder
Weitere Kostenlose Bücher